Sprache

Ich war ein Dialektkind

Die Sprache verankert die Menschen in der Landschaft.
Die Sprache verankert die Menschen in der Landschaft. Alessandra Sanguinetti/picturedesk
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Sobald ein Laut aus meinem Mund kam, wussten die anderen Kinder, wo ich wohnte – in dem Ort, aus dem sie stammten, oder einem anderen. Je nachdem wer sprach, konnten dieselben Ausdrücke ganz konträre Bedeutungen bekommen.

Ich bin dort aufgewachsen, wo andere Urlaub machen. Wo momentan kein Zimmer mehr zu kriegen ist. Wo die Seen klar sind, sich trinken lassen, die Berge spitz, die Bäume oft beblättert mit Nadeln. Das Gras bleibt grün, obwohl es unablässig gemäht wird.

Ich war ein Dialektkind. Die Sprache verankerte mich in der Landschaft. Sobald ein Laut aus meinem Mund kam, wussten die anderen Kinder, wo ich wohnte, in dem Ort, aus dem sie stammten, oder einem, fünf oder zehn Kilometer weiter der Straße entlang, die stets am Rand eines Flusses oder Sees verlief. Hinauf oder hinunter, sagten wir. Obwohl das gar nicht stimmte; die tatsächliche Meereshöhe spiegelte sich nicht in unserer Formulierung. Was wir sagten, entsprach der Topologie unserer Empfindungen eher als geografischen Gegebenheiten. Es gab Ortschaften, die drinnen und Städte, die draußen lagen. „Hinaus“ meinte oft aus den Tälern ins Flachland, aber manchmal auch bis-zum-nächsten-Talkessel-mit-einer-größeren-Ansiedlung, wo im Grunde eigentlich ein „Drinnen“ gewesen wäre. Je nachdem wer sprach, konnten dieselben Ausdrücke ganz konträre Bedeutungen bekommen. Wo die eine „hinaus“ sagte, meinte der andere „hinein“. Die exakte Bedeutung der gesprochenen Wörter hing davon ab, wer sprach.

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