Leitartikel

Die Mittelschicht fühlt sich in der Krise oft im Stich gelassen

Die Presse/Clemens Fabry
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Man soll den Ärmsten helfen, den Mindestpensionisten. Aber was ist mit jenen, die das Rückgrat des Sozialstaats bilden? Kommt die Mitte unter die Räder?

Eine prosperierende Volkswirtschaft, so heißt es, erkennt man daran, wie es jenen in der Mitte geht: der sogenannten Mittelschicht. Sie hält das Werkl am Laufen, zahlt verhältnismäßig üppig ins System ein und sorgt für Stabilität. Wo die Mitte verloren geht, ist es bald auch um den sozialen Frieden geschehen. Die Vereinigten Staaten sind so ein mahnendes Beispiel. Dort sorgte die Finanz- und Immobilienkrise dafür, dass Millionen von Durchschnittsamerikanern in prekäre Verhältnisse abrutschten. 20 Millionen Menschen hausen mittlerweile in Wohnwagen, in sogenannten Trailer Parks. Die meisten davon lebten vor der Subprime-Krise in schmucken Häusern mit Garten und Pool.

Mittlerweile geht auch hierzulande die Angst vor dem sozialen Abstieg um. Die Politik sorgt mit Milliarden und Abermilliarden dafür, dass „die schlimmste Not“ gelindert wird, wie es so schön heißt. Aber klar sei auch, dass lindern nicht bedeutet, völlig zu kompensieren. In der öffentlichen Debatte geht es vor allem darum, jenen zu helfen, die auch schon vor der Krise schwer über die Runden gekommen sind. Es geht um sozial Schwache und natürlich jene mit Mindestpension. Ihnen müsse geholfen werden – aber ja nicht die Gießkanne auspacken, mahnen Ökonomen.


Während also die Reichen ihre Vermögen in Betongold und Aktien stecken, die Armen wie eh und je vom Staat durchgefüttert werden, bleibt jenen in der Mitte, so die landläufige Wahrnehmung, der berühmte Zipfel von der Wurst. Das mühsam Ersparte wird von der Inflation entwertet, und seit Jahren gibt es Reallohnverluste.

Die Lohnverhandlungen im Herbst werden deshalb ein echter Gradmesser. Das meint auch Wifo-Chef Gabriel Felbermayr. Hier entscheidet sich, ob der Kaufkraftverlust in der Mitte gestoppt werden kann. Denn vielen Haushalten machen nicht nur hohe Energie- und Lebensmittelpreise Kummer. Es sind vor allem die steigenden Kreditzinsen fürs Eigenheim, die mittlerweile für schlaflose Nächte sorgen. Und wer sich bei der Kreditvergabe von seinem Bankberater auch noch einen Aktienfonds „zur Sicherheit“ hat aufschwatzen lassen, der sollte derzeit lieber keinen Blick auf sein Depot riskieren.

Tatsächlich ist die These von der erodierenden Mittelschicht unter Wissenschaftlern ziemlich umstritten. Der Ökonom und frühere Generalsekretär des Deutschen Caritas-Verbands, Georg Cremer, meinte jüngst in einem Beitrag in der „Zeit“, der Verlust der Mitte sei eine Mär. Die Mittelschicht sei seit Jahrzehnten stabil, sie schrumpfe nicht. Allerdings fühlen sich viele Menschen in der Mitte vom Staat im Stich gelassen. „Das Problem ist eher ein gefühlter Abstieg“, schreibt Cremer.
Und die Angst vor dem Abstieg hängt in Österreich wohl auch damit zusammen, dass der Aufstieg vergleichsweise schwierig ist. Mit der sogenannten sozialen Durchlässigkeit ist es nämlich nicht weit her. Studien zufolge schaffen es nur 15 Prozent der Kinder aus Familien mit niedrigem Einkommen nach oben. Im Schnitt dauert es fünf Generationen, bis jemand vom untersten Zehntel der Einkommensschicht in die Mittelschicht aufsteigt. Runter hingegen geht es schnell.

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