Das Elend in München betrifft auch den intellektuellen Mittelstand, der bis vor kurzem keineswegs arm war.
Neue Freie Presse am 5. Dezember 1923
In München herrscht ein sich immer bedrohlicher verschärfender Mangel an Lebensmitteln. Den wilden Verzweiflungsausbrüchen der letzten Wochen ist bereits die Apathie der Erschöpfung gefolgt. Die sprichwörtliche Fremdenstadt ist stark verödet und gar viele ziehen es vor, der von politischer Überreizung und wirtschaftlicher Noz ergriffenen Atmosphäre dieser Stadt zu entfliehen. Am bedauernswertesten sind die Kinder, die dem Elend preisgegeben sind, von dem man sich in Wien kaum eine Vorstellung machen kann.
Dankenswert ist die tatkräftige Hilfsbereitschaft eines Wieners, der es unternommen hat, wenigstens eine kleine Gruppe von Kindern dieser Hölle zu entreißen. Hauptmann Roland Held war gelegentlich seines letzten Aufenthaltes in München von dem Elend der Kinder so erschüttert, daß er werktätige Hilfe beschloß. Gemeinsam mit seiner Frau mobilisierte er seine ganzen Bekannten. Bald hatte er die Genugtuung, zwanzig Kostplätze für Münchner Kinder gesichert zu wissen. Ohne daß auch nur die Reisespesen für die Kinder gedeckt gewesen wären, setzte sich Hauptmann Held mit dem Hilfsbund der Münchner Einwohnerschaft in Verbindung, und die Auswahl von zwanzig Kindern, die aus dem Münchner “Totentanz” ins hilfsbereite Wien geholt werden sollten, war bald getroffen.