Zeitreise

Heute vor 90 Jahren: Nicht sezieren, lieber nach Hause schicken

Das ist die Geschichte von dem sonderbarsten Helden der letzten Madrider Revolte.

Neue Freie Presse am 25. April 1934
 
Da liegen sie nebeneinander in einer langen, langen Reihe, die Todesopfer des Blutsonntags von Madrid. In der Leichenkammer gibt es keine Unterschiede. Alter, Rang, Stand, vollkommen einerlei. Sogar die Parteirichtung kommt weiter nicht in Betracht. Als Sektionsmaterial erfüllt ein jeder seinen Zweck. Der Konservative wie der Extremist, der Monarchist wie der Republikaner. Darum mustert der Projektor nur zerstreut: das frische Bubengesicht, das merkwürdig genug anmutet unter den gereiften Schicksalsgenossen. Jetzt gibt der Projektor dem Assistenten, den Dienern einige kurze, knappe Anweisungen und taucht Hände und Messer in die desinfizierende Flüssigkeit. Aber was ist ihm nur?

 Die ganze Zeit über hat er das peinliche Gefühl, al werde er von irgend woher von Blitzen durchbohrt, von angstvollen, verzweifelten, saugenden Blicken. Er wischt sich über die Stirn. Das wäre noch schöner, wenn seine Nerven ausließen! Weiter kein Wunder übrigens, da er hetzt tag- und wochenlang seiner makabren Pflicht nachkommt. Aber er wird die Empfindung nicht los, als würde jede Bewegung seiner Hände in den dicken Operationshandschuhen von irgendwem kampfbereit verfolgt.
 
Und nun gelingt es ihm, diesen Blick wirklich aufzufangen. Er kommt von jenem Jungen, den man mit so vielen anderen in die Leichenkammer gebracht hat. Das ist kein Toter! Auch kein aus seiner Ohnmacht Erwachter.

Der reibt sich die Augen, dehnt sich, streckt sich, und – lächelt naiv und schuldbewußt. Wie ein Schuljunge, den der Herr Lehrer beim Schwänzen erwischt hat. Und nun erzählt er stockend, was er angestellt hat, wie er hierher gekommen ist. Er war eben mitgelaufen. Er konnte nicht anders. Die Revolte war gar zu spannend und aufregend. Aber als die Polizei mit einer Reiterattacke einsetzte, als eine Salve abgefeuert wurde, da wollte er nicht mehr mitmachen. Schreckensrufe, Verzweiflungsjammer der Getroffenen, in wilder Panik Flüchtende, und der Junge sieht keine Möglichkeit, mit heiler Haut zu entkommen.
 
Da hat er sich einfach zu Boden geworfen, hat den Getroffenen, den Toten mit so viel Geschick gespielt, daß ihn die Wärter in die Leichenkammer brachten. Hier ist es jedenfalls ruhiger und ungefährlicher als draußen, wo die Flintenschüsse knattern und die Handgranaten heulen. Wenn nur der Instrumentenkasten nicht gewesen wäre mit all den Messern und Pinzetten, die ihm lähmen wie der eiskalte Blick der Schlange den hilflos flatternden Vogel. „Nur nicht sezieren!“, bittet er flehentlich, „lieber nach Haus schicken! Ich werde es nicht wieder tun!“ Das ist die Geschichte von dem sonderbarsten Helden der letzten Madrider Revolte. 

Ein Ostern voller Räusche

In einem einzigen Bezirk wurden an den beiden Osterfeiertagen nicht weniger als 53 Arretierungen wegen Alkoholexzessen vorgenommen.

Neue Freie Presse am 24. April 1924

Ein beträchtlicher Teil der Wiener ist augenblicklich ungemein ernüchtert.Mehr als das! Man kann ihre Stimmung schon direkt als katzenjämmerlich bezeichnen. Sie haben ihre Räusche hinter sich. Daß sie des Guten zu viel getan und sich übernommen haben, liegt ihnen noch in allen Gliedern. Mäßigung und Mäßigkeit ist die Parole. 

In den Osterfeiertagen, die jetzt hinter uns liegen, mag mancher Champagnerflaschenhals ungebrochen geblieben sein, der eigentlich die entgegengesetzte Bestimmung hatte. Wenn sich Börsengewinne als eitel Schaum erweisen, dann bleibt viel Schaumwein ungetrunken. Damit kontrastiert allerdings auffällig die polizeilich erhärtete Tatsache, daß solche unfreiwillige Alkoholgegnerschaft sich durchaus nicht auf alle Kreise der Bevölkerung erstreckt, daß die Zahl der Osterräusche, der österlichen Trunkenheitsexzesse an die schönsten Tage der Aufwertungschausse und des allgemeinen wirtschaftlichen Wolhbefindens erinnerte.

In einem einzigen Bezirk wurden an den beiden Osterfeiertagen nicht weniger als 53 Arretierungen wegen Alkoholexzessen vorgenommen und wenn man sogar geneigt wäre, dies zum Teil wenigstens darauf zurückzuführen, daß jetzt behördlicherseits in solchen Fällen die Zügel mit gutem Grund ein wenig straffer genommen werden, so bleibt noch genug übrig, um zu konstatieren, daß die düsteren Wolken am ökonomischen Himmel viel zu viele nicht daran hindern, ihr Gewand zu verkaufen und eben in diesen Himmel zu fahren. 

Das Völklein spürt den Krisenteufel erst, wenn er sie höchstpersönlich am Kragen nimmt. Bis dahin läßt es den lieben Gott einen guten Mann sein und freut sich dessen, daß er an so vielen Orten einladend den Arm ausstreckt und zur Heurigenseeligkeit einladet. Nachdem es eine zeitlang den Anschein gehabt hat, als ob die großen Alkoholwellen, die nach Kriegsende über unsere Stadt hinweggerollt sind, langsam zurückgehen, erweisen die heurigen Ostererfahrungen, daß wiederum so etwas wie eine alkoholische Rezidive eingetreten ist.

 „Zurück zu Kant“ lautet eine Devise

Gedenken an den großen Denker, der im April des Jahres 1724 das Licht der Welt erblickte.

Neue Freie Presse am 23. April 1924

Zur Einweihung eines Grabmals sind wir zusammengekommen. Aber der Mann, dem das Grabmal gilt, lebt unter uns heute noch wie kein anderer Philosoph, und er lebt nicht nur in seiner Wissenschaft fort, sondern er ist bei uns Deutschen in allen Wissenschaften lebendig.

Zwar der Ruf: „Zu Kant zurück“ ist heute nicht der einzige. Wir hören daneben die Losung: „Ueber Kant hinaus“, und auch die andere: „Hinter Kant zurück“. Aber „An Kant vorbei“ vermag niemand zu gehen, und ihn ausstreichen aus der lebendigen Bewegung der Gegenwart wollen nur die extremsten Gruppen von rechts und links, aber sie können es nicht; denn Kant – er und nur er – ist das Schicksal der deutschen Wissenschaft geworden. Das ist seine Größe!

Aber wie erklärt es sich, daß wir ihn, den schlichten Königsberger Professor, neben Aristoteles und Newton, und wiederum neben Plato und Leibniz dort stehen sehen, wo das Weltgebäude aufgerichtet ist? Ist es so, weil die Prinzipien seines Denkens und seiner Methode bis heute unangetastet sind? Oder, weil er eine Fülle neuer Einzelerkenntnisse gewonnen hat, die in den eisernen Bestand der Wissenschaft übergegangen sind?

„Nein, weder lassen sich solche Einzelerkenntnisse noch sind die Prinzipien seines Denkens und seiner Methode allgemein anerkannt. Man muß noch weiter gehen: Nicht nur ist hier fast alles in der Schwebe geblieben, sondern dieser umfassende und gewaltige Geist stand doch unter sehr bestimmten Schranken. Mit seiner Zeit sah er alles Gegebene als ein Ruhendes und Starres an, gleichsam im Euklidischen Raum; das Fließende der Dinge, ja das Leben selbst, erfaßte er kaum; bis zu den „Müttern“ ist er nicht herabgestiegen und der Entwicklungsgedanke ist bei ihn noch in den Anfängen.

Starr und abstrakt waren auch seine Psychologie und Aesthetik. Seine Fähigkeit, aus der Geschichte für die Weltanschauung zu lernen, war begrenzt; die Religion als Urphänomen blieb im verschlossen, und seine Unterscheidung der reinen und der praktischen Vernunft kann nur ein vorläufiges methodisches Prinzip sein, nicht aber das letzte Wort der Erkenntnis.

Und dennoch, dennoch bleibt alles Gesagte in Kraft. Kant ist der gewaltige Philosoph, der wie ein Schildhalter am Gebäude der Welterkenntnis steht und mit dem sich kein Nachgeborener an Bedeutung und Wirkung messen vermag. An seiner wissenschaftlichen Persönlichkeit und an seinem Werke muß sich das erweisen,; bezeugen aber muß es die Geschichte der Wissenschaft, wie sie sich nach ihm und durch ihn gestaltet hat.

Kants wissenschaftliche Persönlichkeit — ihre Eigenart liegt in der imponierenden Geschlossenheit: Dem einheitlichen Weltganzen, wie es als Gegenstand der Erkenntnis gegeben ist, tritt hier ein Ich, eine Forscherpersönlichkeit, gegenüber, die selbst eine Größe und Einheit ist -  eine Größe durch die unpersönliche Sachlichkeit, mit der sie die Aufgabe erfasst und durchdringt, ferner durch die herbe Selbstzucht, mit der sie sie behandelt, und sodann durch die überpersönliche Würde, in der sie sich ihr erwachsen fühlt. Es hat, soweit unsere Kenntnis der Geschichte reicht, neben Aristoteles und Kant keinen Dritten gegeben, der sich und sein Leben so ausschließlich mit der Aufgabe der Erkenntnis identifiziert hat. 

Wiener im Süden

Der Reiseverkehr hat die Richtung gewechselt.

Neue Freie Presse am 22. April 1924

Der Sozialismus hört in Bodenbach auf. So wurde wenigstens einmal im alten Abgeordnetenhause amtlich erklärt. Von der Wirtschaftskrise, die durch die Sprünge des Francs noch verstärkt worden ist, kann man jetzt vielleicht mit weit größerer Berechtigung sagen, sie sei schon auf dem Brenner und an der südsteirischen Grenze nicht mehr wegzunehmen. Denn noch nie in der Osterzeit seit dem Weltkriege soll der Wandersturm aus Oesterreich nach Italien so mächtig wie diesmal gewesen sein.

Vollgestopft sind die Züge aus Wien nach dem Süden abgerollt und die Schlafwagenplätze waren seit Wochen vergeben. Das Stammpublikum der Kärntnerstraße, der Karlskirche und des Rings hält jetzt seinen Bummel zwischen Venedig und Sizilien. Vorher, so lange der Francs tief stand, war die französische Riviera stark besetzt. Als er mit Morgans Hilfe wieder hinaufgefeilt war, konnte es der Riviera-Saisin nicht mehr, denn sie war mittlerweile unter dein Strahlen der Frühlingssonne dahingeschmolzen. Aber das wirklich Ueberraschende ist, daß der Reiseverkehr selbst durch die seitherigen Ereignisse nicht beeinträchtigt worden ist.

Nur einen Richtungswechsel hat er aufzuweisen an die Stelle der Riviera, deren große Saison eben alljährlich mit dem März endet, ist Italien getreten! Wien erholt sich jetzt in Italien und strebt dort zu vergessen, was nicht mehr zu ändern ist.

Der Kaiser ist krank

Die Leser müssen über die Gesundheit des Monarchen Bescheid wissen: Das Schleimfieber hat sich wieder eingeschlichen.

Neue Freie Presse am 21. April 1914

Der Kaiser ist durch Erkältung krank geworden, Gewaltsam wäre es, heute zu den Lesern von anderem zu sprechen als von diesem Ereignisse. Durch die wundervolle Natur des Kaisers und die Sorgfalt der Aerzte konnte seit mehreren Jahren der Rückfall in das katarrhalische Fieber der Atmungswerkzeuge und Lungen verhütet werden. Der Kaiser hat sich im Herbste und im Winter vortrefflich befunden und mit der Empfindung voller Gesundheit seinen Kräften fast jeden Tag mehr zugemutet, als er sollte; weit mehr als seine medizinischen Ratgeber, die freilich große Mühe haben, ihren Vorschriften das nötige Gehör zu verschaffen, aus freien Stücken zugelassen hätten.

Das ist auch schwer bei einem Manne, dessen Herz beim Klopfen und Horchen selbst dem schärfsten Ohr nur so wenig von den Spuren des hohen Alters zeigt. Dieses Herz hat dem Kaiser bisher über alle schwierigen Stunden hinweggeholfen, und ihm vertrauen Generaloberstabsarzt Dr. Kerzl und Professor Ortner auch jetzt, da sich das Schleimfieber wieder eingeschlichen und der Kamps um die Genesung wieder begonnen hat. Die Meldungen, die aus Schönbrunn kommen, sollten für alle Zeiten festgehalten werden und erzählen vom inneren Wesen des Kaisers mehr, als dereinst die trockenen Buchstaben in den von seiner Hand gezeichneten Dokumenten werden sagen können. Fieber im vierundachtzigsten Lebensjahre, höhere Temperatur des Körpers, und der Kaiser sitzt an seinem Schreibtische und ein Würdenträger nach dem andern kommt ins Zimmer und hält seinen Vortrag, nicht etwa bloß als Schaustück, um einen Kranken zu täuschen und die Gebärden zu machen, daß die regelmäßige Arbeit so weitergehen kann. Wer von uns könnte das aushalten; nicht durch einzelne Minuten, sondern durch Stunden und Stunden am Sonntag und heute. Der Kaiser vermochte es zu ertragen, und was geschah nach solchen Anstrengungen?

Die Aerzte fanden heute am späteren Nachmittag eine wesentliche Besserung, weit geringere Temperatür und das Erwachen des gottbegnadeten Appetits, der stets ein treuer Begleiter des Kaisers gewesen ist und dem er gewiß einen Teil seiner Zähigkeit und Irische verdankt. Es war ein Aufatmen in Schönbrunn und in den höchsten amtlichen Kreisen, wo nach den bedrückenden Sorgen die Kunde von dieser Wendung sich verbreitete und von maßgebender Seite der Ausspruch fallen konnte: Ein großer Fortschritt und ein wesentliches Hinausrücken der Gefahr. Vielleicht wäre der Monarchie diese Sorge erspart worden, wenn der Kaiser zu einer größeren Schonung hätte gebracht werden können. Im offenen Wagen hat er den Kaiser Wilhelm an einem sehr rauhen Tage zum Bahnhofe begleitet; er fühlte sich schon unwohl und ließ dennoch alle Vorbereitungen zur Reise nach Budapest treffen, wo er die Thronrede beim Empfange der beiden Delegationen zu halten beabsichtigte.

Er will sich von seinem Alter nicht unterjochen lassen und von seinen dreiundachtzig Jahren nicht abhängig sein. Der Kaiser ist jedoch durch seine Anlagen und durch seine Erfahrung, was der Wiener einen gescheiten Menschen nennt. Darunter ist eine Persönlichkeit zu verstehen, die nicht bloß eine gewisse Menge von Kenntnissen in ihrem Kopfe aufgestapelt hat oder einzelne Talente besitzt, sondern auch alle diese Begabungen mit einem klugen und richtigen Urteil zu verbinden weiß. Die Bewohner der Monarchie, denen die Nachrichten aus Schönbrunn viel Kummer bereitet haben, sollten dem gescheiten Menschen, der früher aufsteht als die Sonne und zweiundfünfzig Millionen regiert und sich oft mit kaum glaublichen Einzelheiten befaßt, die Frage vorlegen, ob er sich in den schwierigen Verhältnissen der inneren und der äußeren Politik nicht für eine Notwendigkeit halte. Ein Reich läßt sich mit keiner Privatunternehmung und auch mit der größten nicht vergleichen. Allein kein Firmenchef, der einige tausend Beamte und Arbeiter beschäftigt, wird sich in die geringfügigeren Entscheidungen so tief einlassen, daß er selbst bestimmt, ob einer Witwe und einer Waise hundert Kronen oder zweihundert Kronen jährlich zugewiesen werden sollen. Der Kaiser macht es. (...)

Der Kaiser wird durch die Duldsamkeit gegen Schonung und Pflege einen Wunsch sämtlicher Bewohner der Monarchie erfüllen. Der heutige Nachmittag und Abend waren besser, und wir dürfen hoffen, daß, wenn störende Zwischenfälle vermieden werden, der Körper des Kaisers, dieses Wunder von Widerstandsfähigkeit, die Krankheit überwinden könne. Das prachtvolle Wetter des Frühlings, die Sonne, welche in das Zimmer des Kaisers hineinstrahlt, die Luft des Parkes von Schönbrunn werden das Fieber bewältigen und den Katarrh heilen, der sich in den Lustwegen festgesetzt hat, so tief unten wie vor sieben Jahren. Der Tag schließt freundlicher, als wir noch am Morgen erwarten durften. Möge es so weiter gehen bis zur Genesung; möge das Leben des Kaisers durch ein gütiges Schicksal sich noch um manches Jahr verlängern.

Das deutsche Volk muss wieder zur Vernunft kommen

Reichskanzler Dr. Marx gibt ein Bekenntnis zum Optimismus ab. 

Neue Freie Presse am 20. April 1924

Reichskanzler Dr. Marx hatte die Güte, Ihren Korrespondenten zu empfangen und sich ihm gegenüber ungefähr folgendermaßen zu äußern:

Wir haben gestern die Ministerpräsidenten der deutschen Länder hier gehabt – die Unterredung fand am Tage nach der Beratung der Reichsregierung mit den Chefs der Regierungen der deutschen Länder statt – und die Aussprache mit ihnen hat eine volle Einmütigkeit der Auffassung ergeben. Die Reichsregierung wie die Länderregierungen sind übereinstimmend der Ansicht, daß Deutschland den Sachverständigenbericht akzeptieren soll. In diesem Sinne wird die Reichsregierung bis zum l7. April, welcher Termin ihr von der Reparationskommission gesetzt worden ist, antworten. Unsere Antwort wird schriftlich sein. Wir haben zunächst davon Abstand genommen, Delegierte nach Paris zu senden, da in dem Beschlusse der Reparationskommission nur gesagt ist, daß deutsche Vertreter angehört werden sollen. Verhandlungen sind anscheinend also nicht beabsichtigt. Ob man später mit uns verhandeln wird, ist auch nicht ganz sicher. ·

Der Beschluß der Reparationskommission ist sehr vorsichtig abgefaßt und es heißt darin nur, daß Deutschlands Mitarbeit im Plan der Sachverständigen sichergestellt werden soll. Nachdem wir uns aber zu dieser Mitarbeit bereit erklärt haben werden, erwarten wir mit Bestimmtheit, daß man über diese Mitarbeit mit uns verhandeln wird. Wir haben jedenfalls ein Recht darauf, Verhandlungen zu erwarten, und ich kann es mir gar nicht denken, wie sonst die Mitarbeit Deutschlands geregelt werden soll. Dann werden wir Delegierte nach Paris senden und durch diese werden wir unsere Einwendungen vorbringen. Denn es ist selbstverständlich, daß der Bericht der Sachverständigen nicht in allen seinen Teilen unseren Anschauungen und Wünschen entspricht. Abe auch, wenn wir zu verhandeln beginnen sind Einwendungen vorbringen, so wollen wir dadurch nicht etwa die Ausführung der in dem Sachverständigenbericht entworfenen Projekte verzögern. Wir haben den ehrlichen Willen, zu leisten, was man von uns verlangt, und haben unsere Zustimmung an keinerlei Bedingung geknüpft ebenso wie wir unsere Leistungen von keiner Bedingung abhängig machen werden, die nicht in dem Sachverständigenbericht enthalten ist.

Als Vorbedingung für unsere Reparationsleistungen bezeichnet der Sachverständigenbericht die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Einheit Deutschlands. Er erklärt, daß es nicht möglich ist, bei den gegenwärtig bestehenden fiskalischen und wirtschaftlichen Beschränkungen in den besetzten Gebieten das deutsche Budget zu balancieren und die deutsche Währung zu stabilisieren, und daß der ganze Bericht die Wiederherstellung der fiskalischen und wirtschaftlichen Einheit des Deutschen Reiches zur Voraussetzung hat. Diese Erklärungen der Sachverständigen, die zwar vorsichtig gefaßt, aber in ihrem Sinne doch ganz klar sind, können nach meiner Ansicht und nach der Ansicht der Regierungen des Reiches wie der Länder nur die vollständige wirtschaftliche und administrative Befreiung des Ruhrgebietes bedeuten. Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, wie ohne die Befreiung unseres wichtigsten Wirtschaftsgebietes irgendwelche Reparationen von uns geleistet werden sollen. Wir müssen also die freie Verfügung. Über die Eisenbahnen wieder bekommen, unsere Verwaltungsbeamten müssen wieder in Tätigkeit treten, die Zollschranken, die aufgerichtet worden sind, müssen fallen.

(…) Jedenfalls war es richtig, den Wahltermin hinaus zu schieben. Wenn man im März gewählt hätte, wie namens ich von der Rechten verlangt worden ist, so wären die Wahlen wahrscheinlich anders ausgefallen, als sie im Mai ausfallen werden. Seit dem März hat sich einige Aenderung in der Stimmung der Wählerschaft vollzogen. Es sind ja auch in der letzten Zeit manche Ereignisse eingetreten, von denen ich eine günstige Beeinflussung der Wählerschaft erwarte, so vor allem der Sachverständigenbericht und die Erneuerung der „Mieum“-Verträge, durch die Hunderttausende von der Sorge, ihr Brot zu verlieren, befreit werden. Der Sachverständigenbericht eröffnet die Aussicht auf ausländische Anleihen, und ich glaube, daß das Ausland sie uns gern geben wird, wenn erst einmal alles in Ordnung sein wird. Ferner ist es gelungen, die Golddiskontbank zu schaffen, die demnächst in Tätigkeit treten wird und deren wohltätige Wirkungen auf das deutsche Wirtschaftsleben sich bald fühlbar machen wird. Diese und andere Ereignisse, die zeigen, daß es trotz allem und allem langsam vorwärts geht, weiden sicherlich nicht ohne Einfluß auf die Wähler bleiben und schließlich lasse ich mir den Glauben nicht nehmen, daß das deutsche Volk doch wieder einmal zur Vernunft kommen muß. 

Anmerkung: Wilhelm Marx war in den Jahren 1923/24 sowie 1926 bis 1928 Reichskanzler. In seine Regierungszeit fielen zahlreiche Krisen, darunter Konflikte mit den Ländern Sachsen und Bayern. Außerdem brachte die Einführung der neuen Währung als Reaktion auf die Inflation von 1923 wirtschafts- und finanzpolitische Probleme mit sich. Nach Entlassungen, der Verabschiedung neuer Steuern und Sparmaßnahmen stabilisierte sich die Lage. Im Februar 1924 konnte der militärische Ausnahmezustand aufgehoben werden.

Das Flugzeug im Dienste der Schatzgräber

Peter Duvals Schatz sorgt für Aufsehen. 

Neue Freie Presse am 19. April 1924

Die vergrabenen Schätze der Piraten des 17. und 18. Jahrhunderts üben nach wie vor eine seltsame Anziehung auf die Sehnsucht der angelsächsischen Rasse aus. Immer wieder ziehen neue Abenteurer auf die Suche nach diesen Schätzen aus, obwohl die Historiker behaupten, daß diese großen Schätze ins Gebiet der Fabel gehören, da die Piraten nur kleine Fahrzeuge angreifen konnten und sich an die großen, verteidigungsfähigen Schiffe mit Gold und Silber an Bord in der Regel gar nicht heranwagten. Jedoch: es wird weiter gesucht und gegraben. Das neueste Unternehmen dieser Art wird aus Kanada gemeldet.

Es scheint, daß in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein französischer Pirat, namens Peter Duval, sein Unwesen im Golf von Biscava trieb und daß kein Handelsschiff zwischen St. Malo und der spanischen Küste vor ihm und seinem kleinen 100-Tonnen-Schiff „Geier“, das aber vier Geschütze und 120 Mann an Bord führte, sicher war.

1763 hatte der biedere Peter entweder genug oder er fühlte sich nicht mehr jung genug für seinen zwar einträglichen, aber an die Früchte seiner Arbeit irgendwo in Sicherheit zu bringen. Seine Wahl fiel auf Kanada, anf eine der zahllosen Inseln des St. Lawrente-Golfes. Nicht weit von der Insel Vonaventure steigt steil und fast snekrechtein fast 90 Meter hoher Kalkfels aus dem Wasser auf, der Peter Rock. Dort soll Duval seine Schätze begraben haben. So heißt es seit vielen Jahren, und so viele Leute versuchten, den durch Hinwegwaschung eines Teiles der Klippen fast unzugänglich gewordenen Fels zu erklimmen, daß die kanadische Regierung das Betreten des Felsens überhaupt verbot.

So will man jetzt den Fels in einem Flugzeug überfliegen, genaue photographische Ausnahmen machen und wohl auch, trotz des Verbotes, im geeigneten Moment eine Landung vornehmen und die eigentliche Schatzgräberarbeit beginnen.

Ein neuer amerikanischer Korruptionsskandal

Wenn Petroleum die Politik beeinflusst.

Neue Freie Presse am 18. April 1924

Die Enthüllungen und Beschuldigungen, die im Petroleumskandal ihren Anfang nahmen, greifen in immer weitere Gebiete über.

So wurde gestern im Senatsausschusse, der die Amtsführung des früheren Attorney General Daugherty untersucht, auch die Gebarung mit dem sequestrierten duschten Eigentum angegriffen. Ein Zeuge behauptete, daß das auf den Philippinen beschlagnahmte deutsche Eigentum zu lächerlich geringen Preisen verkauft und nicht einmal ein Zwangsverwalter bestellt worden sei. Der Sekretär des damaligen Gouverneurs Harrisson habe internierten Deutschen die Freilassung angeboten, wenn sie sich den Verkauf ihres frequestrierten Eigentum zu diesen Preisen gefallen ließen.

Anmerkung: Der Teapot-Dome-Skandal war einer der größten politischen Bestechungsskandale in der Geschichte der USA. Dabei hatten zwei Ölkonzerne, um sich die lohnende Erschließung staatlicher Ölfelder zu sichern, Innenminister Albert B. Fall (Republikanische Partei) bestochen. Fall war 1929 der erste US-Minister, der für ein Verbrechen in seiner Amtszeit eine Haft antreten musste.

Österreich lässt zahlreiche Nationalsozialisten frei

Die entlassenen Personen erklärten, sich in Hinkunft jeder verbotenen Tätigkeit zu enthalten.

Neue Freie Presse am 17. April 1934

Amtlich wird mitgeteilt: Wie bereits vor Ostern gemeldet wurde, hat die Bundesregierung der eingetretenen innenpolitischen Beruhigung dadurch Rechnung getragen, daß sie nationalsozialistische Parteigänger in größerer Zahl aus den Anhaltelagern entlassen hat. 

Nachdem dieser Zustand der Ruhe auch in den seither abgelaufenen Wochen nicht wesentlich gestört wurde, hat die Bundesregierung in den letzten Tagen neuerlich aus dem Anhaltelager Kaisersteinbruch über hundert, aus dem Anhaltelager Wöllersdorf ungefähr sechzig nationalsozialistische Parteigänger entlassen.

Es handelt sich hiebei um Personen, die freiwillig die Erklärung abgaben, sich in Hinkunft jeder verbotswidrigen Tätigkeit zu enthalten, deren Führung im Anhaltelager einwandfrei war und deren Entlassung auch mit Rücksicht auf die Verhältnisse ihres Wohnortes unbedenklich schien. Bei Zutreffen der vorerwähnten Zustände beabsichtigt die Bundesregierung, solche Entlassungen auch weiterhin vorzunehmen. 

Der Notschrei der Hofräte

Die Demonstration der hohen Beamten und der Kampf ums Prinzip.

Neue Freie Presse am 16. April 1924

Die Demonstration der Hofräte wäre ein einzigartiges Schauspiel gewesen. Der Plan, der ursprünglich bestanden hatte, ist aufgegeben worden, und die hohen Beamten der Zentralstelle werden sich damit begnügen am morgigen Nachmittag eine Deputation zum Bundeskanzler zu entsenden, damit die  Regierung auf diese Weise auf die Wünsche und Interessen dieses Teiles der öffentlichen Angestellten besonders aufmerksam gemacht werde. Diese Form der Kundgebung entspricht dem ganzen Denken und Fühlen der Männer, um die es sich hier handelt, gewiß besser als der Vorschlag, der zuerst gemacht worden war, als die Absicht, während der Dienststunden eine Versammlung abzuhalten und zu diesem Zwecke für eine kurze Zeit in allen Ressorts, in den Sitzungen und Konferenzen die Arbeit ruhen zu lassen.

Welche Stimmung muß jedoch in diesen Kreisen herrschen, wenn ein solcher Gedanke überhaupt gefaßt und beraten werden kann, wie weit muß die Unzufriedenheit und das Gefühl der Zurückweisung vorgeschritten sein, wenn diese führenden Männer in der Beamtenhierarchie den Wunsch fassen, durch eine vorher nie dagewesene Demonstration die Blicke auf sich zu lenken?

Der österreichische Staat ist mit Reichtümern nicht gesegnet. Aber zu feinem besten Besitz, um den manches andere Land ihn beneiden mag, und zu den wertvollsten Erbstücken aus der alten Monarchie gehört die Schar selbstloser und uneigennütziger, in sachlicher Tüchtigkeit und hoher Disziplin geschulter öffentlicher Beamter. Diese obersten Diener ihres Vaterlandes unter denen viele Hunderte eine von vergangenen Generationen her übernommene Tradition fortführen, bildeten stets eine eigene Art von Oesterreichertum und in der Wiener Gesellschaft, in den höchsten Schichten des Mittelstandes waren sie mit die besten Träger der österreichischen Kultur.

In der Geschichte des alten Staates sind die Namen dieser Familien verzeichnet und auf allen Schlachtfeldern des Großen Krieges sind auf den verfallenden Grabeskreuzen die gleichen Namen wieder zu finden. Der neue Staat hat die Arbeitskraft und die Opferbereitschaft der Beamten wie ein selbstverständliches Gut mitübernommen, und selbstverständlich schien auch die Forderung, daß diese Kreise wortlos diese Last der Not auf sich nehmen. (…) Nur aus diesen Zuständen ist die Stimmung, die jetzt in der obersten Beamtenschaft herrscht, zu verstehen.

Ein Wendepunkt in der Seuchenbekämpfung

Die Erforschung von Keimen scheiterte bislang daran, dass sie infolge ihrer Kleinheit in jeder Hinsicht unerkennbar waren. Nun scheint eine Lösung gefunden.

Neue Freie Presse am 15. April 1924

Aus Berlin wird uns geschrieben: In der letzten Sitzung der Berliner Mikrobiologischen Gesellschaft hielten der Direktor des Hygienischen Instituts der Berliner Tierärztlichen Hochschule, Geheimer Medizinalrat Professor Dr. P. Frosch, und sein Mitarbeiter, Professor Doktor H. Dahmens, einen Vortrag, der sich mit den Entdeckungen der beiden Forscher auf dem Gebiete der Auffindung der Erreger epidemischer Krankheiten beschäftigte. Es ergab sich daraus, daß die beiden Gelehrten in dieser Hinsicht so große Erfolge zu verzeichnen hatten, daß diese die breiteste Oeffentlichkeit interessieren dürften.

Wir nahmen Gelegenheit, Geheimrat Frosch über die Resultate seiner neuen Arbeiten zu befragen, und er hatte die Liebenswürdigkeit, und im Beisein Professor Dahmens darüber wie folgt Auskunft zu geben: Die Bekämpfung der Krankheiten und Seuchen hat bisher unter dem Umstande gelitten, daß man noch immer zum großen Teil ihre eigentlichen Erreger nicht kannte und nicht wußte, welche Eigenschaften der Ansteckungsstoff hatte. Infolgedessen konnten die Maßnahmen zu ihrer Unschädlichmachung nicht immer die zu einem günstigen Resultat endgültige Präzision annehmen. Außer den Bakterien und den Protozoen, die man seit Robert Koch immer sicherer als Krankheitsursachen erkannte, wußte man, daß es noch solche Keime geben mußte, deren Erforschung daran scheiterte, daß sie infolge ihrer Kleinheit in jeder Hinsicht unerkennbar waren. Man konnte sie infolgedessen weder sehen noch züchten. Das war größtenteils der Fall bei den Bakterien, die die furchtbar ansteckende Maul- und Klauenseuche sowie die bösartige Lungenseuche bei den Tieren erzeugten, ferner die Krankheitserreger bei der Hühner-, Rinder und Schweinepest, sowie auch die Pocken- und Tollwutbazillen und die Keime für Masern, Scharlach und Kinderlähmung.

Seit 1886 stand es durch Löfflers Untersuchungen fest, daß eine solche Sorte von Krankheitserregern in bestimmten Erscheinungen existierte, aber es war noch nie gelungen, sie mit technischen Mitteln faßbar zu machen. Sie trotzten dem Darstellungsvermögen der kräftigsten Mikroskope absolut. Da kam Professor Frosch auf die Idee, den Apparat des Jenenser Professors August Köhler, der nach Angaben des berühmten Professors Abbé von den Zeiß-Werken konstruiert worden war, zur Erforschung zu gebrauchen. Das Wesentliche dieses Apparates besteht darin, daß sein Auflösungsvermögen des durch ihn zur Darstellung gelangenden Objektes doppelt groß ist. Während die bisherigen Mikroskope zwei dicht nebeneinanderliegende unendliche kleine Punkte in unendlich kleinem Abstand, zum Beispiel als Strich zeigten, löst der Köhlersche Apparat diesen Strich in seine unendlich winzigen, selbständigen Bestandteile auf. Der Nachteil ist allerdings, daß er mit ultraviolettem Licht, also mit Strahlen, die das menschliche Auge nicht sieht, arbeitet.

Aber der photographische Apparat bannt das Unsichtbare doch auf die Platte und es kommt alles darauf an, diese Photographie des Unsichtbaren wieder auszubauen. Den beiden Gelehrten ist es nun gelungen, nachdem Professor Dahmen die außerordentlich schwierige Züchtung des Erregers der Maul- und Klauenseuche auf festem Nährboden geglückt war, auch den Erreger der Lungenseuche für Kinder für die Beobachtung und Untersuchung festzustellen. Als Erreger der Lungenseuche ergab sich ein Sproßpilz, als Erreger der Maul- und Klauenseuche ein Stäbchen von Bruchteilen eines Tausendstelmilimeters. Damit ist der Weg offen, auch die Erreger der übrigen Krankheiten, die man bisher auf empirischem Wege heilte (wenn man von der Schutzpockenimpfung und dem Tollwutserum, was schon gefunden ist, absieht) zu erforschen und auf dem ganzen Gebiet der Seuchenbekämpfung zum erstenmal mit Gewißheiten arbeiten zu können, deren segensreiche Ausnützung von noch nicht ausdenkbaren Folgen sein kann.

Scheibe ersetzt Ball im Eishockeysport

Vor zwei Jahren entschloss sich der Wiener Eislaufverein als erster in Österreich, das kanadische Spiel mit der Scheibe einzuführen.

Neue Freie Presse am 14. April 1924

Bis zum Jahre 1922 war in Oesterreich nur das Eishockeyspiel mit dem Ball (Bandy) bekannt, in welchem Wiener Mannschaften eine hohe Kampfstärke erreichten. Vor zwei Jahren entschloß sich der Wiener Eislaufverein als erster, das kanadische Spiel mit der Scheibe einzuführen und stieß damit auf den lebhaften Widerstand der übrigen Vereine. Doch unbeirrt verfolgte der führende Wiener Verein den als richtig erkannten Weg, und heute ist das Scheibenspiel bei allen Vereinen heimisch und das Ballspiel vollkommen erledigt.

Diese Entwicklung vollzog sich unter dem Drucke der äußeren Notwendigkeit, da in Amerika, England und am Kontinent nur mehr kanadisch gespielt wurde. Einzig die Nordstaaten mit ihren großen Natureisplätzen hängen noch am Ballspiel - und die beiden Städte Leipzig und Budapest. Während die Nordländer in ihrem Klima die Begründung finden und dabei aber auch das Scheibenspiel nicht vernachlässigen, ist es bei Leipzig und Budapest hauptsächlich das Beharrungsvermögen der alten, gut eingespielten Mannschaften, welche den Uebergang zum kanadischen Spiel verhindern. Den Schaden tragen sie freilich selbst, denn die Isolierung bringt ein Verdorren des Sports mit sich.

Der Aufschwung des Eishockeysports in Wien ist ein ganz riesiger. Die Zahl der Mannschaften, die an der Meisterschaft dieses Jahres teilnahmen, betrug zwölf gegen sieben im Vorjahre. Die aktiven Eishockeyspieler und Jungmannschaften kann man mit etwa 500 annehmen - gegen 50 vor zwei Jahren. Nur die Eisplätze fehlen noch, welche die Spieleinrichtungen besitzen, um auch die notwendige Trainings- und Wettspielmöglichkeit zu bieten: die Eisplätze mit Beleuchtung zur Abhaltung von Abendspielen und der Abendtrainings. Auch in dieser Richtung wird es im nächsten Jahre besser werden, da der Verband dann voraussichtlich über vier Plätze, vielleicht aber schon über sechs Spielfelder mit Abendbeleuchtung verfügen dürfte.

Wie steht es nun mit Wien und dem Ausland? Der Eishockeysport in Oesterreich wurde heuer vom Auslande förmlich entdeckt. Die Teilnahme am Davoser Turnier ergab eine ganz überraschend hohe Spielstärke des Wiener Eislaufvereines, der in der Folge ein begehrter Gegner der vorzüglichen Prager Mannschaften Sparta und Slavia wurde. Allein auch die übrigen Wiener Vereine waren als Spielpartner gesucht und machten Ausflüge nach Böhmen und Kitzbühel, um mit internationalen Mannschaften zu kämpfen, zumeist mit sehr gutem Erfolge. Das wirkte wieder anfeuernd auf den ganzen Sport, weckte das Selbstvertrauen und die Spielfreude. Interessant ist das internationale Kräfteverhältnis. Im Eishockeysport gibt es eine Spitzengruppe: Kanada, Amerika und England. Diesen Nationen, von denen wieder den Kanadiern die Hegemonie zufällt, folgen an Spielstärke die Czechen, Franzosen, Schweden und wir Oesterreicher mit den Deutschen und Schweizern. Nicht viel im Kräfteverhältnis unterschieden sind die Belgier, während Italiener und Spanier noch nicht an die vorgenannten heranreichen.

In Kanada ist das Eishockeyspiel Volkssport wie bei uns Fußball und es wird in laufenden Vereinen und Klubs leidenschaftlich betrieben. Die Spielstärke Oesterreichs hat im Auslande allgemein überrascht, da der kanadische Sport selten in so kurzern Zeit beherrscht wird.

Die Mannschaft des Wiener Eislaufvereines wurde in diesem Winter von einem zweiten Verein, dem Pötzleinsdorfer Sportklub, beinahe eingeholt. Schon dieser Umstand beweist eine mächtige Entwicklung, denn die überragende Spielstärke eines Vereines ist kein Zeichen gesunder Entwicklung des Gesamtsports, lähmt den Ehrgeiz der weit hinten Befindlichen und macht den Spitzenverein lässig und übermütig. Nur in einer starken Breitenentwicklung liegt der Ansporn für alle Teile. Der Beste soll das im schweren Kämpfen erweisen, aber nicht durch leichte Siege über schwache Gegner.

Die österreichischen Vereine haben national einheitliche Spieler. Nimmt man die Zusammensetzung der Berliner Schlittschuhklubmannschaft, so findet man unter den sechs Kämpfern derselben 3 Schweden, 1 Schweizer und 2 Deutsche. Der Nachteil eines derartigen Teams tritt in dem Augenblick zutage, in dem es sich um Nationalkämpfe handelt, an denen nur Angehörige der Nation teilnahmsberechtigt sind.

Im kommenden Winter wird Wien der Mittelpunkt großer internationaler Kämpfe werden und Wiener Vereins- und Auswahlmannschaften haben die Gewißheit, im Auslande ihr Können zu zeigen. Eine besonders rege Sportverbindung ist zwischen der Schweiz und Wien sowie zwischen Prag und Wien zu erwarten. Da auch Budapest auf das kanadische Spiel übergehen dürfte, so werden sich die alten Beziehungen zum ungarischen Sport wieder aufnehmen lassen. Die Beteiligung Oesterreichs an der Europameisterschaft in Prag ist als gewiß anzusehen. Der Entwicklung in den Bundesländern, besonders Tirol, macht Fortschritte.

Noch fehlt der Semmering als Eishockeyspielplatz, der dafür die gleichen Vorzüge hat wie Davos. Die Gründung eines Semmeringer Sportklubs für alle Zweige des Wintersportes wäre eine Notwendigkeit für den Sport, aber noch mehr für den internationalen Fremdenverkehr der Semmeringkolonie. Vielleicht bedarf es nur einer Anregung, die diesem naheliegenden Gedanken zur Verwirklichung verhilft. Warum muß denn der ideale Wintersportplatz im Eissport hinten nachkommen - etwa weil er in Oesterreich liegt?

Das Recht der Mutter auf ihr Kind

Die verheiratete Frau in England erhält dieselben Rechte wie der Vater.

Neue Freie Presse am 13. April 1924

Das englische Unterhaus hat soeben eine Gesetzesvorlage angenommen, die der verheirateten Frau in bezug auf ihre Kinder dieselben Rechte gibt, wie sie der Vater besitzt. Bisher galt der Vater allein als der gesetzliche Vormund seiner Kinder, er allein hatte Anspruch darauf, das Kind in seiner Obhut zu halten, und er allein war für ihre Erhaltung verantwortlich. Von nun an teilt die Mutter mit dem Vater in diesem Punkte alle Rechte und Verantwortlichkeiten. Das Gesetz bestimmt auch ausdrücklich, daß beide Eltern für Erhaltung und Erziehung ihrer Kinder bis zum Alter von 16 Jahren entsprechend ihren Mitteln verantwortlich sind.

Der Gesetzesentwurf war eingebracht von einem der weiblichen Unterhausmitglieder, der Liberalen Mrs. Wintringham, die betonte, daß bis jetzt die verheiratete Frau im Nachteile gewesen sei gegenüber der unehelichen Mutter oder der geschiedenen Mutter, die beide gesetzlich anerkannten Einfluß auf ihre Kinder haben. Diese Ungerechtigkeit müsse beseitigt werden und die Ehe anerkannt werden als das was sie ist, eine Gemeinschaft. Die Mutter wisse ebenso gut wie der Vater, was für das Kind am besten sei.

Die Regierung willkommte durch ihren Vertreter den Grundgedanken des Gesetzes, nahm aber Anstoß an der Formulierung und versprach, ihrerseits möglichst bald eine ähnliche Vorlage einzubringen. Die Vorlage der Regierung werde anerkennen, daß die Gerichte bei Entscheidungen, die sich auf ein Kind beziehen, beide Elternteile als gleichberechtigt zu behandeln, und sich nur um das zu kümmern haben, was für das Kind am besten sei. Die Regierungsvorlage werde es auch möglich machen, daß eine verheiratete Frau, noch während sie mit ihrem Mann zusammenlebt, vom Gerichte das Kind zugewiesen erhalten könne, doch würde eine derartige Gerichtsentscheidung erst dann in Kraft treten, wenn die Frau mit ihrem Mann nicht mehr zusammenwohnt.

Die Diskussion zeigte mit wenigen Ausnahmen eine allgemeine Zustimmung zu dem Grundgedanken der Vorlage. Mehrere Redner spielten in humoristischer Weise auf ihre Erfahrungen als Ehemänner und Väter an, die sie gelehrt hätten, daß der Umstand, daß die Frau jetzt wisse, kein gesetzliches Recht auf ihr Kind zu haben, sie häufig rebellisch mache, so daß sie suche, ihren Willen in einer anderen Richtung durchzusetzen. Andere Redner gaben der Vorlage als Junggesellen ihre Zustimmung und ein Redner meinte, die Opposition käme meistens von Leuten, die dreimal verheiratet gewesen seien.

Radiotanzmusik an Bord eines Dampfers

Das Schiff war mit Verstärkern ausgerüstet, die es den Passagieren aller drei Klassen ermöglichten, Musik, Reden usw. zu hören, die von Rundfunkstationen an Land verbreitet wurden.

Neue Freie Presse am 12. April 1924

Wir lesen in der „F.Z.“: Als der von seinen Hamburger Fahrten her wohlbekannte Dampfer „Kroonland“, der jetzt unter der Flagge der Panama Pacific Linie zwischen Newyork und Kalifornien verkehrt, Sandy Hook passiert hatte, wurde ein sehr interessanter Versuch mit einem tragbaren Radio-Lautsprecher gemacht. Das Schiff war mit Verstärkern ausgerüstet, die es den Passagieren aller drei Klassen ermöglichten, Musik, Reden usw. zu hören, die von Rundfunkstationen an Land verbreitet wurden. Die „Kroonland“ war während der ganzen etwa 5200 Seemeilen betragenden Reise von Newyork nach San Francisco mit Rundfunkstationen in Verbindung.

Von Schenectado verbreitete Musikstücke waren, als das Schiff 500 Seemeilen von Los Angeles (Kalifornien) entfernt war, ebenso deutlich zu hören, als wenn das Schiff eben vor Newyork läge. An Deck tanzten die Passagiere nach einer Musik, die durch die Luft 3500 Meilen über Land und weitere 500 Meilen über See erklang. Die Leistungen des Broadcasting verleiten übrigens nicht bloß zur drahtlosen Uebermittlung von Tanzmusik, sondern zu weit gewagteren Experimenten.

So wird zum Beispiel eine britische Radiogesellschaft um die Zeit der Fliederblüte den Gesang der Nachtigallen durch Funkspruch verbreiten. Zu diesem hübschen Zweck wird ein mit den nötigen Apparaten versehenes Automobil in die Waldungen von Oxfordshire fahren und die dort ansässigen Nachtigallen werden so freundlich sein, direkt in die aufgemachten Mikrophone zu schmettern.

Beim Hissen einer Hakenkreuzfahne tödlich verunglückt

Der Korrespondent aus Linz berichtet.

Neue Freie Press am 10. April 1934

Der Schuhmachermeister Karl Weigersdorfer aus Hinterstoder ist um Mitternacht von Samstag auf Sonntag über eine Felswand abgestürzt und mit zerschmettertem Schädel tot liegen geblieben.

Er war dabei, eine Hakenkreuzfahne zu hissen. Den Umständen nach zu schließen, ist ihm ein Rasenstück, das er als Griff benützen wollte, ausgebrochen, so daß er den Halt verlor und abstürzte. Einige Mithelfer sind aus Hinterstoder geflüchtet.

Wiedereinführung des militärischen Waffenrockes

Seit der Neuordnung der Dinge in Österreich ist die Parademontur und damit der Waffenrock abgeschafft und zugleich ist die Militärperson aus dem Gesellschaftsbilde verschwunden. Das soll sich ändern.

Neue Freie Presse am 9. April 1924

Das Gesellschaftsbild der Vorkriegszeit war wesentlich charakterisiert durch die militärische Uniform. Nicht nur in jenen Kreisen, in denen Offiziere und Einjährig-Freiwillige die ausschließlichen Repräsentanten des Militärs waren, sondern auch in den Mittelschichten, wo die Mannschaft „vom Feldwebel abwärts“ den militärischen Einschlag gab. Daß Offiziere und Offizieranwärter sich in Gesellschaft, im Theater, ja selbst im Gast- oder Kaffeehaus nur im Waffenrock zeigen durften, war selbstverständlich; aber auch der Unteroffizier und die Mannschaftsperson ohne Chargengrad mußten zum Sonntagsausgang oder zum Besuch des Bürgerballes, des Feuerwehrkränzchens den Waffenrock anlegen, der noch dazu vom Aerar beigestellt wurde, und es galt als Pflicht des Kameradschaftskommandanten und der Tagcharge, darauf zu achten, daß der Marsjünger im außerdienstlichen Verkehre seinen Truppenkörper würdig repräsentiere.

Seit der Neuordnung der Dinge in Oesterreich ist die Parademontur und damit der Waffenrock abgeschafft und zugleich ist die Militärperson aus dem Gesellschaftsbilde verschwunden. Die Dienstuniform ist noch unscheinbarer als das bescheidenste Zivil, und deshalb tragen die Angehörigen der Wehrmacht außer Dienst zumeist das Bürgerkleid. Die Heeresverwaltung ist der Ansicht, daß die Wiedereinführung des Waffenrockes die Beziehungen zwischen Bevölkerung und Wehrmacht zu vertiefen geeignet wäre. Sie hat sich entschlossen, den Wünschen vieler Angehöriger der Wehrmacht durch Einführung eines militärischen Gesellschaftskleides für außerordentliche Zwecke zu entsprechen.

Das demnächst erscheinende Heeresverordnungsblatt wird einen Erlaß erhalten, der für den außerordentlichen Gebrauch das Tragen des Waffenrockes und der schwarzen Uniformsalonhose gestattet. Altartige Waffenröcke mit den Gradabzeichen und Kragenlitzen des Bundesheeres dürfen nicht verwendet werden, sondern es wird ein gleichartiger Waffenrock, zu dem die schwarze Hose getragen werden muß, normiert, doch ist kein Heeresangehöriger verpflichtet, sich diese Kleidungsstücke anzuschaffen und darf hiezu auch in keiner Weise beeinflußt werden.

Palästina blüht auf

Das Land zeigt eine unglaublich rasche wirtschaftliche Entwicklung.

Neue Freie Presse am 8. April 1934

Vor fünfzehn Jahren hatte Palästina etwa 700.000 Einwohner, heute sind es 1.100.000. Der Fortschritt dieser letzten fünfzehn Jahre ist auf allen Gebieten gewaltig. Jerusalem ist auf bald 100.000 Einwohner gewachsen. Tel Aviv ist zur zweitgrößten Stadt des Lande geworden, sein geistiges und wirtschaftliches Zentrum, und nach Smyrna und Beirut die größte Stadt der asiatischen Mittelmeerküste.

Die drittgrößte Stadt Palästinas ist heute Haifa, bei Kriegsende ein kleines Nest, nun einer der größten Häfen des östlichen Mittelmeeres. Diese wenigen Ziffern zeigen die unglaublich rasche wirtschaftliche Entwicklung dieses Landes zwischen Jordan und Meer, das bis vor kurzem als klein und unfruchtbar eine nebensächliche Rolle im Weltverkehr spielte.

In der Zeit, da alle Völker im Nichtbezahlen ihrer Schulden wetteifern, war Palästina das einzige Land, das seine durch Friedensvertrag übernommene Beteiligung an der türkischen Staatsschuld bis zum letzten Groschen gezahlt hat. Es ist zweifellos ein bedeutendes Verdienst der englischen Regierung, durch eine ungewöhnlich vorsichtige und sparsame Finanzpolitik den Staatshaushalt des Heiligen Landes in geradezu üppige Verhältnisse versetzt zu haben.

Der Faschismus siegt, die Kommunisten holen auf

Der Sonntag der Wahlen brachte große Erfolge der Hitler-Partei.

Neue Freie Presse am 7. April 1924

Die Wahlen in Bayern sind besonders wichtig als Auftakt zu den großen Entscheidungen. Die Nachrichten, die bisher vorliegen, geben noch kein ganzes Bild, aber so viel läßt sich doch schon sehen, daß die Hitlerpartei große Einzelerfolge erzielt hat, daß in den Städten die Machtstellung des bayerischen Zentrums geschwächt und daß die ohnehin wenig feste Position der bürgerlichen Mittelparteien fast völlig erschüttert wurde. Auf dem Lande hat die bayerische Volkspartei, wie sich das Zentrum hier nennt, ihre Mandate allerdings behauptet, Aber sie dürfte künftighin auch in ihren ländlichen Hochburgen mit der Gegnerschaft des sogenannten völkischen Blocks, in dem die Anhängerschaft von Hitler vereinigt ist, zu rechnen haben.

Die Sozialdemokraten haben gleichfalls Verluste erlitten und die äußerste Linke, die Kommunisten, rücken nach ihrer Wahlziffer in der Reihe der Landtagsparteien Bayerns weit vor. Die Zahlen aus den anderen Städten fehlen zwar noch, aber es ist anzunehmen, daß sie dem Münchner Resultat, das bisher alleine vorliegt, ungefähr entsprechen werden.

Was wird die nächste Folge des bayerischen Wahlergebnisses sein? Der Erfolg der Nationalsozialisten, der gestern abend in einer Bürgerversammlung von Ludendorff an der gleichen Stelle gefeiert wurde, von der aus vor einem halben Jahre das unheilvolle Zwischenspiel der Bierkellerrevolution seinen Ausgang nahm, ist groß genug, um ernste Sorgen zu erwecken; die augenblickliche Bedrohung der bayerischen Verfassung, die zugleich eine Bedrohung des Reiches gewesen wäre, ist jedoch abgewehrt, denn schon jetzt gilt es als gewiß, daß der Antrag, über den zugleich mit den Wahlen der Volksentscheid stattgefunden hat, nicht die nötige Mehrheit bekam und daß daher im neuen Landtag ohne die nötige Mehrheit bekam und daß daher im neuen Landtag ohne die Zustimmung von zwei Dritteln seiner Mitglieder verfassungsmäßige Umwälzungen nicht möglich sein werden.

Die Hauptfrage ist jetzt in bezug auf Bayern, nach welcher Seite die bisherige Regierungspartei der Klerikalen eine Koalitionsbildung suchen und ob die Auffassung der Zentrumskreise im Reich sich durchsetzen wird die bekanntlich mit den Putschisten nichts zu tun haben wollen und trotz aller inneren Verschiedenheiten das Zusammengehen mit den Sozialdemokraten vorziehen.

Der Berater im Halbdunkel

Die Zeitung schreibt über eine einflussreiche Figur aus den Hintergründen der österreichischen Politik.

Neue Freie Presse am 6. April 1924

Sein Name wird von Mund zu Mund geflüstert. Man sieht ihn nirgends, und selten nur, in anspruchsloser und sachlicher Form, äußert er sich über die Probleme der finanziellen Erneuerung. Ein Halbdunkel ruht über seiner Gestalt, die dennoch als eine der wenigen wirklich interessanten des neuen Oesterreich bezeichnet werden muß. Dr. Gottfried Kunwald, das ist der Mann, über den wir sprechen, ist seit vielen Jahren ein armer Kranker, ein Rumpf mit einen mächtigen Schädel, der in seinem Zuschnitt und in der Barttracht an die Figuren aus den siebziger und achtziger Jahren erinnert. Dieses Fragment eines Menschen, dieser Leidende, der sich kaum mehr aus dem Hause zu entfernen vermag, dieser Unbeamtete, gehört trotzdem zu den Auserwählten, zu dem ganz engen Kreis derern, die Einfluß haben und die Entschlüsse der leitenden Personen kennen und zu bestimmen vermögen. Einer Advokatenfamilie entstammend, selbst Inhaber einer bedeutenden Kanzlei, wenn auch ohne den Titel eines Rechtsanwaltes, hat er die Dialektik eines gebornen Debatters; dabei die Fähigkeit, kühne Schlüsse in ein System zu bringen, das zu imponieren, ja manchmal zu blenden imstande ist. Doktor Gottfried Kunwald wird vielleicht in künftigen Memoiren eine größere Rolle in der Geschichte der österreichischen Gesetzgebung zukommen, als vielen Ministern, die breit und stolz von der Oeffentlichkeit die Zügel führten. In der dunklen und einsamen Dreizimmerwohnung, die dieser Verwaltungsrat der Biedermann-Bank noch jetzt bewohnt, laufen die Fäden zusammen, aus denen manches wichtige Gewebe gesponnen wird, dort wird manchmal der Anstoß gegeben zu schicksalhaften Wendungen.

Wie konnte Dr. Kunwald diese Stellung sich erringen, woher ist ihm die Macht verliehen worden, die sich trotz aller Verborgenheit mit solcher Stärke äußert? Vielleicht ist im Nachfolgenden die Lösung dieses Rätsels. Doktor Kunwald war schon während des Krieges ein Anhänger der unbedingten Friedlichkeit, jenes Ausgleiches unter den Völkern, wie ihn Professor Lammasch, der Unvergeßliche, gefordert hat. Diese Ueberzeugung hat ihn schon damals Dr. Seipel näher gebracht, und aus dieser Gemeinschaft der Ideen erwuchs das Vertrauen, das so innig und tiefgreifend geworden ist, daß - so raunen die Wissenden - das Resultat der Genfer Tagung Kunwald gleichzeitig mitgeteilt wurde, manche behaupten sogar, noch ein wenig früher - als der Regierung. War die Friedensliebe ein Element der Gemeinsamkeit, so waren es noch mehr die finanzpolitischen Ueberzeugungen. Dr. Kunwald hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß er die Stabilisierung der Krone zu einem sehr tiefen Kurse für richtig halte. Es ist ihm gelungen, diese seine Meinung siegreich zur Geltung zu bringen, freilich ohne daß alle Nebenwirkungen erwogen wurden, die aus dieser allzu radikalen und der Teuerung so wenig Rechnung tragenden Maßregel entstehen mußten. Noch in der Konstruktion des Schillings, gegen den wir viele ernste Bedenken haben, glauben wir ein Stück seines Willens zu finden, seines Willens, der immer heftig vordringt und anscheinend gerade durch diesen Radikalismus imperativ zu wirken vermag. Dr. Kunwald hat jedoch nicht allein in sachlicher Beziehung sich betätigt. Auch persönlich haben seine Eindrücke oft besondere Gewalt gehabt. Er ist in guten Beziehungen zu den ehemaligen Ministern Heinl und Mataja. Dr. Wilhelm Rosenberg, das ist ein öffentliches Geheimnis, ist sozusagen von ihm dem Kanzler präsentiert worden, und er hat rechtzeitig bemerkt, daß diese Energie dem Staate wesentliche Dienste zu leisten vermöge und daß aus diesem Holze große Unterhändler geschnitzt werden, die man im Verkehr mit England benötigt und zu denen auch der jetzige Generalrat der Anglobank Dr. Hans Simon gehört.

Ist Dr. Kunwald wirklich das, was man so gern als Egeria bezeichnet; ist es nicht übertrieben, was diejenigen von ihm erzählen, die so gern einen Blick in das Oesterreich, in die Hintergründe unserer politischen und finanzpolitischen Entscheidungen werfen wollen? Wir können darauf keine Antwort geben, die eine exakte und mathematische Wahrheit verkörpert. Aber das eine ist zweifellos, niemand kann an diesem Manne gleichgültig vorbeigehen, der künftighin versuchen wird, eine Geschichte der eigentlichen österreichischen Politik zu schreiben, einer Politik, die ganz anders verläuft als in den Fibelbüchern, die von den Naivlingen verfaßt werden, die sich einbilden, daß Parlamentsreden und Parlamentsdebatten ausschlaggebend sind für die Geschichte eines Volkes. Oesterreich hat schon zur Zeit der Monarchie sehr oft die Institution eines solchen Ratgebers gehabt und in guter Erinnerung ist beispielsweise die Rolle, die Staatsrat Braun bei Berufung des Ministeriums Hohenwart spielte, dessen Programm und dessen Pläne in der Bieglerhütte bei Neuwaldegg in tiefster Verschwiegenheit vollendet wurden. Auch späterhin ist es so geblieben, daß Oesterreich meistens einen Stockmar besaß, einen Mann der großen Konzeptionen, der heimlichen Denkschriften, der Memoranden, wie zum Beispiel den Minister des Innern Graf Balandt, der dem allgemeinen Stimmrecht zum Siege verhalf.

Ist in der Republik, in unserer Zeit der Demokratie noch Platz für einen Ratgeber? Paßt die Rolle der Egeria in eine Epoche, wo scheinbar alles ans helle Licht der Oeffentlichkeit gezogen werden muß, und alles, was ohne Verantwortung und ohne parlamentarische Genehmigung arbeitet, verurteilt wird? Selbstverständlich kann niemand Ministern verbieten, sich bei einem hervorragenden Fachmann Anregung zu holen. Aber es ist doch außerdem ein Armutsbeweis für unsere Parlamentarier, ein Beweis der tiefen Schwäche unserer Abgeordneten, daß ein Advokat, einer, der mit dem Betriebe der Wandelgänge so gar nichts zu tun hat, die Rolle übernimmt, die den zünftigen Politikern und Finanzleuten gebühren würde. Und noch etwas Charakteristisches. In früheren Zeiten war es ein Salon unbedeutender Frauen, ausgezeichnet durch Geist und Schönheit, wo die Einwirkungen auf die Politiker erfolgten. Heute gehen sie in die Schulerstraße, in die Dreizimmerwohnung eines kranken Denkers. Ob das, was aus dieser Krankenstube kommt, auch wirklich Oesterreich zum Segen gereicht, das ist das große Rätsel, das große X unserer Politik, und heute sollten nur die Umrisse dieser merkwürdigen Gestalt grundiert werden, als Fingerzeig für die Beurteilung, als Wegmarke in den verschlungenen Pfaden unseres öffentlichen Lebens.

Ausbürgerungen sozialdemokratischer Parteiführer

In der Begründung heißt es bei Dr. Otto Bauer: Dieser wird vom Landesgerichte wegen Hochverrates steckbrieflich verfolgt.

Neue Freie Presse am 5. April 1934

Gestern nachmittag wurden auf dem schwarzen Brett der Polizeidirektion die Kundmachungen über 18 Ausbürgerungen aus dem Wiener Heimatverbande angeschlagen. Darunter befinden sich die vier sozialdemokratischen, in die Tschechoslowakei geflüchteten Führer Dr. Otto Bauer, Dr. Julius Deutsch, Karl Heinz und Berthold König. Ihre Ausbürgerung erfolgt gemäß § 10, Absatz 2, des Bundesgesetzes vom 30. Juli 1925 in der Fassung der Regierungsverordnung vom 16. August 1933.

In der Begründung heißt es bei Dr. Otto Bauer: Dr. Bauer ist anläßlich der Februarrevolte in die Tschechoslowakei geflüchtet und wird vom Landesgerichte wegen Hochverrates steckbrieflich verfolgt. Er hat in Prag die Broschüre „Der Aufstand der österreichischen Arbeiter, seine Ursachen und seine Wirkungen“ erscheinen lassen, in der er in einer regierungsfeindlichen Weise zu den Ereignissen der Februarrevolte Stellung nimmt. Er gehört auch dem in Brünn bestehenden „Auslandsbureau österreichischer Sozialdemokraten“ an, das die Aufgabe hat, die Verbindung mit den österreichischen Sozialdemokraten herzustellen und die illegale regierunfsfeindliche Tätigkeit der sozialdemokratischen Partei fortzusetzen.

In diesem Sinne lautet auch die Begründung bei Dr. Deutsch, der am 14., und bei Heinz und König, die am 12. Februar nach der Tschechoslowakei geflüchtet sind. König wird auch wegen Veruntreuung steckbrieflich verfolgt. Als fünfter Sozialdemokrat wird der Redakteur Dr. Adolf Sturmthal ausgebürgert, der am 16. Februar in einer Versammlung in Zürich eine österreichfeindliche Rede gehalten und die Bundesregierung beleidigt hat.

Die Gefährdung des Medizinstudiums in Wien

Der Leichenmangel im Anatomischen Institut macht Sorge.

Neue Freie Presse am 4. April 1924, Abendblatt

Den Stolz der Wiener Universität und damit auch den Stolz Wiens überhaupt bilden die Hochleistungen der medizinischen Fakultät, die Großtaten hervorragender Gelehrter und Praktiker. Nun aber hört man von einer Gefahr, die für die Fortentwicklung des medizinischen Unterrichtes in unserer Stadt besteht. Das Anatomische Institut blickt mit Sorge auf das kommende Studienjahr, denn es könnte sich leicht ereignen, daß es seine Arbeitsräume für neuaufzunehmende Mediziner sperren müßte, wenn nicht rechtzeitig dem drückenden Mangel an Seziermaterial abgeholfen würde.

Die Klagen über die abnehmende Zufuhr mit Leichen sind nicht erst in den letzten Tagen aufgetaucht, und es ist kaum zu glauben, daß trotz der ernsten Mahnungen und Warnungen bisher nichts geschehen ist, um den Wünschen der Professoren, die sich mit den Wünschen der Hörerschaft vollständig decken, Rechnung zu tragen. Vor kurzem hatten die Studenten der medizinischen Fakultät die Absicht, auf die Straße zu gehen und gegen die Passivität der Regierung zu demonstrieren. Diese Notwehr aus wissenschaftlichen Gründen unterblieb jedoch, weil die rasche Berücksichtigung der Beschwerden in Aussicht gestellt wurde. Zwar fand im Unterrichtsministerium eine Konferenz statt, aber es kam dabei zu keinem befriedigenden Ergebnis.

Der Leichenmangel im Anatomischen Institut hat vor kurzem auch das Gericht beschäftigt. Bei der Verhandlung in einer Ehrenbeleidigungssache hörte man, daß im Jahre 1922 in die Anatomie 218 ganze und 683 sezierte Leichen eingeliefert wurden, die den Studenten die Möglichkeit boten, die unerläßlichen anatomischen Studien zu betreiben und sich für ihren künftigen, dem Wohle der Menschen gewidmeten Beruf entsprechend vorzubereiten. Im letzten Jahre trat jedoch ein jäher Wandel ein. Die Zahl der ganzen Leichen, die dem anatomischen Institut zukamen, sank auf 45, eine Ziffer, die keinesfalls ausreicht, um die Erfordernisse nur einigermaßen zu decken. Der Umschwung wird auf einen Vertrag zurückgeführt, den das Ministerium für soziale Verwaltung, ohne das Professorenkollegium der medizinischen Fakultät zu befragen, ohne sich mit dem anatomischen Institut ins Einvernehmen zu setzen, ja - wie es heißt - sogar ohne das Unterrichtsministerium zu verständigen, mit einem Leichenbestattungsunternehmen abschloß.

Ist schon diese Art des Vorgehens höchst bedauerlich und befremdend, so ist noch weniger zu begreifen, weshalb Monate ungenützt blieben, weshalb man, nachdem sich die Kalantität für den wissenschaftlichen Betrieb einmal zeigte, nicht sofort nach Mitteln zur Abhilfe Ausschau hielt. An Vorschlägen fehlte es ja nicht. Es wurde der Regierung nahegelegt, die Leichen, die in Betracht kamen, aus der Umgebung Wiens, zu sammeln und den Hörern der Medizin zur Verfügung zu stellen. Auch die Gemeinde Wien wollte dem Anatomischen Institut ungefähr fünfundsechzig Leichen im Jahre zuwenden, allein die Ausführung dieses Anerbietens scheiterte erstaunlicherweise an Formalitäten. Man vermochte sich über den Transport nicht zu einigen. Auch andere Pläne wurden maßgebendenorts unterbreitet. Aber alles war bisher umsonst; es hat sich keine Hand gerührt, um das Uebel zu beseitigen.

Dabei handelt es sich um eine ernste Angelegenheit, um eine Frage, die nicht nur das Anatomische Institut berührt, sondern den Ruf der ersten Universität in Oesterreich und des wissenschaftlichen Lebens in Wien. Man kann den Gedanken gar nicht zu Ende führen, daß medizinische Studium in unserer Stadt verdorren müßte, daß für den notwendigen Nachwuchs an Aerzten nicht gesorgt werden könnte, weil die Regierung ihre Pflicht vernachlässigt, weil sie nicht mit der wünschenswerten Energie und Umsicht den wohlerwogenen Forderungen der Professoren entspricht. Schon einmal, am Beginne des achtzehnten Jahrhunderts, trat ein jäher Verfall des medizinischen Unterrichts ein, weil die Vorschläge der Fakultät ungehört verhallten, weil die Regierung untätig blieb. Erst in der maria-theresianischen und josefinischen Zeit konnte das Versäumnis nachgeholt werden, denn damals setzte eine großzügige Reformtätigkeit ein. Die Ereignisse vor zwei Jahrhunderten, die dazu beitragen, manches wertvolle Kulturgut zu verschütten und manchen Glanz auszulöschen, müssen als Warnung dienen.

Schon ist es spät, aber noch ist es nicht zu spät, und die Stillegung des Anatomischen Instituts hintanzuhalten. Es muß jetzt mit doppelter Kraft dafür gesorgt werden, daß es nicht weiterhin an Studienbehelfen fehle, daß die Arbeiten am Seziertisch in vollem Umfange fortgesetzt werden können. Lässigkeit würde sich bitter rächen.

Das größte Teleskop der Welt

Die Astronomen werden nun imstande sein, auf die photographische Platte Sternwolken zu bringen, die zwölf Milliarden Lichtjahre entfernt sind.

Neue Freie Presse am 3. April 1934

Zwanzig Tonnen geschmolzenen Glases wurden in die Form des größten bisher gebauten Teleskopspiegels gegossen, der für das Technologische Institut in Kalifornien bestimmt, seinen Platz im Mount-Wilson-Observatorium in Pasadena finden soll. Es war ein schwieriges Unternehmen, das zehn volle Stunden in Anspruch nahm. Dabei weiß man noch nicht, ob der Guß geglückt ist. Denn es haben sich einige Spangen an der Form gelöst und eine Eisenstange ist mit dem Glas geschmolzen. Eine Prüfung auf Fehlerhaftigkeit kann aber erst nach Abkühlung der Gußmasse erfolgen, das ist nach zehn Wochen.

Der Spiegel hat einen Durchmesser von 200 Zoll, eine Brennweite von 55 Fuß und wird gestatten, auf viermal so große Entfernungen und zehnmal so rasch zu photographieren, als es jetzt möglich ist. Die Astronomen werden nun imstande sein, auf die photographische Platte Sternwolken zu bringen, die zwölf Milliarden Lichtjahre entfernt sind.

Dem Guß wohnte eine viertausendköpfige Zuschauermenge bei, darunter die Direktoren des Mount-Wilson-Observatoriums Dr. George Ellery Hale und Dr. W. S. Adams sowie der Direktor des Dunlop-Observatoriums in Toronto Dr. C. A. Chant. Bis zur Montierung wird es noch lange dauern. Mindestens zwei Jahre erfordert es, bis der Spiegel, nachdem er von der Form gelöst und nach Kalifornien transportiert sein wird, den richtigen Schliff erhält und gebrauchsfähig ist.

Das Plagiat als Todesursache

Eine Plagiatsaffäre hat den Tod eines hochbegabten jungen Zeichners nach sich gezogen.

Neue Freie Presse am 2. April 1924

Aus Paris wird uns geschrieben: In einem Schadenersatzprozesse, der dieser Tage in Paris stattfinden soll, wird eine Plagiatsaffäre zur Sprache kommen, die den Tod eines hochbegabten jungen Zeichners nach sich gezogen hat.

Der junge Rooker, ein mittelloser Künstler, dem seine Lehrer eine hervorragende Laufbahn prophezeit hatten, war vor etwa drei Jahren nach Paris gekommen, und unter sehr ungünstigen Arbeitsbedingungen, in die er infolge seiner drückenden Notlage einwilligen mußte, in das kunstgewerbliche Atelier einer Frau Pangon eingetreten. Es erfüllte den jungen Künstler mit wütender Erbitterung, daß diese Dame ihn nicht nur ungemein schlecht bezahlt, sondern auch seine Entwürfe immer als ihre eigenen Arbeiten ausgab. Sie trieb diese Unanständigkeit so weit, daß sie Skizzen, die er entworfen hatte, unter ihrem Namen dem Salon d‘Automne einsandte.

Infolge dieses Vorfalles kam es am Tage der Eröffnung des Salons, am 1. November 1922, zu einer furchtbaren Szene zwischen den beiden, in deren Verlauf er das Arbeitsverhältnis kündigte. Er begab sich zu seinem Freund, dem Schriftsteller Fontenailles, der angesichts der furchtbaren Erregung des Künstlers ihn aufforderte, bei ihm zu übernachten, damit er sich nicht vielleicht in der Einsamkeit seiner Mansarde ein Leid antue. Rooker konnte keinen Schlaf finden, durchblätterte nervös den Katalog des Salons und fand darin die ausdrückliche und übrigens selbstverständliche Bestimmung, daß es streng verboten und als Plagiat verpönt sei, Arbeiten eines anderen unter eigenem Namen dem Salon einzureichen. Rooker weckte seinen Freund, zeigte ihm diesen Paragraphen und seine Aufregung nahm in so furchbarer Weise zu, daß er gegen Morgen starb.

Fontenailles und ein ihm befreundeter holländischer Maler Botterma beschlossen nun, die Unanständigkeit der Frau, die den jungen Künstler in den Tod getrieben hatte, an den Pranger der Oeffentlichkeit zu stellen, und in modernen Pariser Blättern erschienen ausführliche Berichte über den Vorfall. Infolgedessen geriet das kunstgewerbliche Institut der Frau Pangon immer mehr in Mißkredit und verlor allmählich seinen Kundenkreis. Nun strengte Frau Pangon gegen die beiden Künstler eine Schadenersatzklage an. Doch dürfte der Prozeß einen für sie peinlichen Ausgang nehmen, da sich zahlreiche Zeugen, darunter namhafte Künstler, gemeldet haben, die über eine Frau Pangon in verschiedenen Plagiatsaffären bedenklich belastendes Material verfügen.

Heute vor 100 Jahren: Mildes Urteil im Hitler-Prozess

Die Vorstellungen von dem, was Hochverrat ist, haben sich in Bayern in beängstigender Weise verirrt.

Neue Freie Presse am 1. April 1924 (Abendausgabe)

Das Münchner Volksgericht hat heute um zehn Uhr vormittags das mit Spannung erwartete Urteil gefällt und dabei eine Milde walten lassen, die jetzt in Deutschland nicht immer anzutreffen ist und die besonders selten Platz greift, wenn der Richtspruch nach links hin wirken soll. Der Staatsanwalt hat für Hitler ein Strafmaß von acht Jahren, für Pöhner, Kriebel und Dr. Weber von sechs Jahren Festungshaft beantragt und für Ludendorff zwei Jahre vorgeschlagen, um nur die wesentlichsten Personen aus dem großen Hochverratsprozess zu nennen. Der Richtspruch aber, der heute verkündet wurde, sieht für Hitler, Pöhner, Kriebel und Dr. Weber je fünf Jahre Festung und eine Geldstrafe vor, allein nach einer Strafzeit von sechs Monaten wird den vier Verurteilten eine Bewährungsfrist für den Rest der Haft in Aussicht gestellt. Ludendorff jedoch ist vollständig freigesprochen worden.

Man muß sich nur der Vorgänge in München an dem denkwürdigen achten und neunten November des vorigen Jahres erinnern, um zu ermessen, welche Tragweite der Putsch im Bierkeller hätte gewinnen können, wenn er nicht so rasch zusammengebrochen wäre. Die Gefahr eines Bürgerkrieges, die Deutschland ohnehin eine Zeitlang dauernd bedrohte, war in diesen schicksalsvollen Stunden nähergerückt als sonst; unermeßliches Unglück hätte entstehen können, wenn die Bewegung nicht jäh zum Abschluß gekommen sein würde. Dennoch gibt es für das nachsichtige Urteil des Volksgerichtes einen psychologischen Grund. Die Vorstellungen von dem, was Hochverrat ist, haben sich in Bayern in beängstigender Weise verirrt, so daß es schwer wird, die Schuldigen von den Unschuldigen zu trennen.

Entweder hätte das Gericht alle, die für die nationalsozialistische Aufpeitschung der Massen, für die Verächtlichmachung der Berliner Regierung und für die Untergrabung des Ansehens der Weimarer Verfassung verantwortlich sind, bestrafen müssen, oder es mußte Milde einen weiten Spielraum gönnen. Hitler bekannte sich offen zu seiner Politik, während andere, die jetzt nach dem sonnigen Süden reisen wollten, doch eigentlich nur den Vorzug haben, daß sie besserer Taktiker sind, daß sie ihre Reden sorgfältiger zu formulieren verstehen und daß sie nicht die unbedingte Gewalttätigkeit auf ihre Fahnen schreiben.

Allerdings werden die Strafen, die heute verhängt wurden, kaum dazu dienen, die gewissenlosen Hetzer in der Zukunft abschrecken, den Geist der Auflehnung gegen die demokratische Republik zu ersticken und das Spielen mit Putschplänen endgültig abzustellen. Wie viele, die kein eigenes politisches Urteilsvermögen besitzen, die blindlings der radikalen Phrase folgen, werden lediglich mitgerissen und dadurch zu Opfern der Demagogie, die vor nichts, auch nicht vor dem Hochverrat zurückscheuen.

Während des Münchner Prozesses hat ein Angeklagter ganz offen eingestanden, daß er die Reichsverfassung, gegen die er Sturm laufen wollte, nicht gekannt habe. Da aber so laut über sie geschimpft wurde, sei ihm der Gedanke gekommen, daß es nicht unangebracht wäre, gegen sie mit bewaffneter Hand zu kämpfen. Auf diese politische Unmündigkeit, auf diese Naivität sollte Rücksicht genommen werden, denn gerade aus den Kreisen der Verführten und Verirrten setzt sich der Anhang jener zusammen, die das Deutschland, das in Weimar geformt wurde, am liebsten kurzerhand, und sei es selbst mit Blutvergießen, beseitigen möchten.

Deshalb wäre es notwendig, die Rädelsführer an ihre Pflicht zu erinnern; sie müssen wissen, daß die Schuld auch ihre Strafe finde. Adolf Hitler hat in seiner Schlußrede pathetisch ausgerufen, daß ihn das Gericht nur verurteilen möge, denn das Gottesgericht werde den Antrag des Staatsanwaltes zerreißen. Er gab auch der Hoffnung Ausdruck, daß die Stunde der Tat kommen und daß das alte Kommando wieder ertönen werde. Solche Worte dienen gewiß nicht dazu, die Aufregung zu bannen und eine Stimmung des inneren Friedens vorzubereiten, die Deutschland so dringend braucht. 

Heute vor 100 Jahren: Mangelnde Straßenreinigung in Wien

Geh- und Fahrwege befinden sich in einem die Gesundheit gefährdenden Zustand.

Neue Freie Presse am 31. März 1924

Ein Wiener Rechtsanwalt schreibt uns: „Mit Befriedigung hat man in letzter Zeit von den Maßnahmen zur Heilung der Tuberkulose erfahren. Weniger befriedigend liegen die Verhältnisse in bezug auf die Verhütung des Entstehens dieser Krankheit. Insbesondere sind da die schweren Ueberstände bei der Straßenreinigung.

Geh- und Fahrwege befinden sich in einem die Gesundheit gefährdenden Zustand. Noch fast überall finden sich die mit Unrat vermengten Ueberreste von Schneemassen, deren Wegschaffung unvollständig erfolgt war. Allen Schut bei Straßen- und Häuserreparaturen läßt man auf den Wegen liegen. So finden sich im 3. Bezirk bei der Einmündung der Beatrixgasse in die Rechte Bahngasse mehrere solcher Schutthaufen, die sich täglich durch Ablagerung vergrößern: eine besondere Sehenswürdigkeit für unsere Stadtväter wäre die Besichtigung der Rechten Bahngasse von der Beatrixgasse aus bis zum Rennweg. Ein Tümpel und Unratshaufen reiht sich dem andern an, die Gesundheit der Passanten insbesondere bei trockener, windiger Witterung, bedrohend. Während früher die Straßen täglich, wenn auch unhygienisch, gereinigt wurden, sind jetzt die Wege schon frühmorgens, aber auch spät abends, mit Schmutz aller Art bedeckt.“

Heute vor 90 Jahren: Hollywood-Film in Deutschland verboten

Der jüdische Boxer Max Baer spielt in “Männer um eine Frau” die Hauptrolle.

Neue Freie Presse am 30. März 1934

Die Reichsfilmkammer hat den amerikanischen Film “Männer um eine Frau” mit dem Boxer Max Baer in der Hauptrolle verboten. Die englische Fassung des Films wurde seit Wochen im Lichtspieltheater “Kapitol” gespielt, wo auch der gleichfalls verbotene Elisabeth-Bergner-Film aufgeführt worden war.

Max Baer, der Jude ist, steht in der Boxweltmeisterliste an zweiter Stelle. Er hat Max Schmeling besiegt und soll demnächst mit dem gegenwärtigen Weltmeister, dem Italiener Carnera, um die Weltmeisterschaft kämpfen. In dem Film “Männer um eine Frau” wird der Aufstieg eines riesenstarken jungen Mannes, der anfänglich Hausknecht in einem Wirtshaus ist, zum weltbekannten Boxer gezeigt. Der Boxkampf zwischen Max Baer und Carnera, welcher gleichfalls auftritt, bildet den Höhepunkt des Films.

Die Metro-Goldwyn-Meyer-Gesellschaft, die den Film in Amerika gedreht hat, wollte nun die deutsche Fassung herausbringen. Die Filmkammer ist heute zusammengetreten, um über die Zulassung zu entscheiden. Nach der Vorführung des Films fragte der Vorsitzende der Kammer den Vertreter des Reichspropagandaministeriums, der als Sachverständiger zugezogen wurde, ob er Bedenken gegen die Aufführung habe, weil der Hauptdarsteller der jüdische Boxer Max Baer ist. Die Antwort war: Ja. Daraufhin wurde die öffentliche Vorführung des Films in Deutschland verboten, und zwar nicht nur die deutsche, sondern auch die englische Fassung.

George Bernard Shaw antwortet Kritikern

Shaws Stück über die Jungfrau von Orleans sorgt für Kontroversen. 

Neue Freie Presse am 29. März 1924

Die Londoner Premiere von Bernard Shaws “Jungfrau von Orleans” hat in Literaturkreisen, namentlich in Frankreich, die Kontroverse über die Persönlichkeit der französischen Heldin aufs neue aufleben lassen. Shaw nahm darauf Veranlassung, in einem Brief an die Theaterzeitschrift “Comedia” zu der Angelegenheit Stellung zu nehmen, wobei er zugleich die Pariser in amüsant-satirischer Art unter sein kritisches Mikroskop nahm.

.“Die wahre Frau in Johanna”, führt der Dichter aus, “ist noch heute in ihrem Vaterland so unpopulär wie damals, als die Burgunder sie den Engländern verkauften und die sie der französischen Kirche und der Inquisition zur Verbrennung überlieferten. Die Leute, die in meinem Werk einen Angriff auf Patriotismus und Religion erblicken, kennen das Stück nicht und vielleicht kennen sie überhaupt weder Patriotismus noch Religion. Niemals wieder will ich auf französische Kritiken erwidern, denn regelmäßig, wenn ich mich erkundige, ob der Ankläger das in Frage stehende Stück auch kenne, habe ich die Antwort erhalten: “Nein - aber er hat bei Verdun gekämpft.”

Ich habe diese Art Opposition in London und new York ertragen müssen, und ich werde sie in Paris ertragen müssen, denn Paris ist nicht nur ebenso unzivilisiert wie New York oder London, sondern es leidet unter einem merkwürdigen Achtzehnten-Jahrhundert-Provinzialismus, der nicht ohne Reiz ist. Ich sah neulich eine Aufführung von “Helden” im Odeon, in der sorgfältig klar gemacht wurde,  daß der tragische Held meines Stückes ein schwerer Büffel sei, den man nicht ernst nehmen darf. Es ist schade, denn die Wertschätzung meiner Stücke ist ein Art Kulturbeweis geworden, und bis jetzt war Frankreich immer der Primus der Klasse.

Ich habe London erzogen, ich habe New York erzogen, Berlin und Wien, Moskau und Stockholm sind zu meinen Füßen. Aber ich bin zu alt, um Paris zu erziehen. Sie sehen, ich kenne Paris weit besser als die Pariser es kennen, und ich mag es gerade darum lieber. Kein Franzose, sondern ein englischer Dichter, William Morris, sagte mir einmal, Frankreich sei das schönste Land der Welt. Ich habe das gleichfalls gefunden, aber die Pariser schätzen es nicht im mindesten. Man sollte sie sämtlich aus Paris vertreiben und durch Engländer ersetzen, die Engländer würden Frankreich zu würdigen verstehen.”

Heute vor 100 Jahren: Die 42 Hüte der geschiedenen Frau

Edith Kelly, die geschiedene Gattin des amerikanischen Millionärs Frank Jay Gould, hat vor Gericht die Forderung auf das halbe Vermögen ihres Ehegemahls eingebracht.

Neue Freie Presse am 28. März 1924

Aus Paris wird uns geschrieben: Vor dem Versailler Zivilgerichtshof hat Mrs. Edith Kelly, die geschiedene Gattin des amerikanischen Millionärs Frank Jay Gould, die Forderung auf das halbe Vermögen ihres Ehegemahls, das auf etwa 30 Millionen Dollar (2 1/4 Billionen Kronen) geschätzt wird, eingebracht.

Mrs. Kelly hat, wie noch erinnerlich, vor nicht allzulanger Zeit die Gerichte und die Oeffentlichkeit mit ihrer Person beschäftigt. Von der Bühne weg, sie war eine vielbewunderte Tänzerin, hat Mr. Gould sie zum Traualtar geführt. Auf das Podium der Music Halls kehrte sie nach der Scheidung zurück, wobei der Name Gould ihre größte Werbekraft bedeutete. In mehreren Verhandlungen erwirkte Mr. Gould, daß sein Name von den Programmen und Plakaten der Varietébühnen verschwinden müsse.

Nun strengt Mrs. Kelly, wie sich die Dame wieder mit ihrem Mädchennamen nennt, den Vermögensprozeß gegen ihren früheren Gatten an. Sie stützt ihre Forderung auf die Tatsache, daß ihre Ehe ohne Heiratskontrakt geschlossen wurde, wodurch nach französischem Recht das Verhältnis der Gütergemeinschaft gegeben war und ihr also der Anspruch auf die Hälfte des Vermögens zustehe. Maitre Rosenmark wandte sich als Vertreter des Mr. Gould gegen diese Begründung. Die Ehe, führte er aus, sei seinerzeit in England geschlossen worden, die Gatten seien amerikanische Staatsbürger, weshalb auch nur amerikanisches Recht und amerikanische Sitte in Frage kommen. Diese Auffassung werde dadurch nicht berührt, daß beide Parteien ihren Wohnsitz in Paris hätten.

Der einzige Grund übrigens, weshalb Mr. Gould ein Bureau in Paris erhalte, sei die Notwendigkeit, die ausstehenden Rechnungen seiner früheren Gattin an Möbellieferanten, Konfektionshäuser usw. in Ordnung zu bringen. So habe Mrs. Kelly in einem einzigen Monat nicht weniger als 42 Hüte bestellt und bezogen und auch andere äußerst kostspielige Erwerbungen für ihre Garderobekasten gemacht. Zu einem Urteil ist es noch nicht gekommen.

“Völkerwanderung” bei Olympischen Spielen in Paris erwartet

Es stellen sich vorab Fragen: Bis zu welcher Höhe werden die Preise klettern? Und sollen Fremde in der Währung ihres Landes zahlen?

Neue Freie Presse am 27. März 1924

Aus Paris schreibt unser Korrespondent: Nach den letzten polizeilichen Veröffentlichungen ist in der vergangenen Woche zum erstenmal seit den Weltausstellungstagen von 1900 die Fremdenziffer von einer Million erreicht worden. Zeitungen und Oeffentlichkeit stellten über diese Ziffer Betrachtungen an, worin sich Freude und Aerger, Hoffnung und Furcht in seltsamer Weise mischen. Was soll erst diesen Sommer werden? Für die olympischen Spiele werden ganz gewaltige Vorbereitungen getroffen.

Ein paar Ziffern: Die eben fertiggestellten Tribünen in Colombes fassen 60.000 Menschen. 60.000 weitere sind als „zahlende Zaungäste“ vorgesehen. Die „unbezahlbaren“ werden jedenfalls auch diese Ziffer erreichen. Zur Beförderung dieser Menschenmassen ist ein Zugsverkehr vorgesehen, der per Stunde 20.000 Personen Genüge leisten kann. Dazu kommen die unzähligen Autos und „Taxis“. Drei Schiffsladungen Privatautomobile sind aus Amerika angemeldet. Kurz und gut, man erwartet eine Art moderne Völkerwanderung. Die Konsumenten aller Gattungen erheben ihre Stimme zu beweglichen Klagen. Bis zu welcher Höhe werden die Preise klettern? Heute schon verlangt ein erstklassiger Schneider für einen Anzug 5000 Francs, das sind 260 Dollar. Die Hühnchen und jungen Erbsen werden unerschwinglich sein. Bananen und Kokosnüsse können überhaupt nicht mehr in einen Pariser Mund gelangen. Amerikaner, Engländer, Deutsche und Russen werden sich um die guten Weine und die fetten Gänse, den Käs, den Champagner und den Schinken reißen. Was bleibt da noch für den armen Francsbesitzer übrig? Wäre es nicht am besten, man wiese all den ungebetenen Gästen die Tür und verzehrte selber die herrlichsten Dinge, die unter der Sonne Frankreichs reifen und wachsen?

Tagelang neigt sich die Schale der öffentlichen Meinung zu dieser Seite. Dann aber kommen andere Interessenten zu Wort: Hat man in der Finanzkommission des Senats nicht behauptet, im letzten Jahre seien für nicht weniger als drei Milliarden Francs Devisen hereingekommen, ausschließlich durch den Fremdenverkehr? Sollte es nicht möglich sein, diese Ziffer heuer auf das Doppelte zu bringen? Welche eine ideale Stütze gäbe das für den Franc ab! Was hat man tun müssen, um vor zwei Wochen den rasenden Sturz aufzuhalten? Man hat kostbares Gold nach England und Amerika bringen müssen. Statt daß man solche Werte ausführt, muß man sie in das Land hereinschaffen. Einige Entbehrungen wird es schon kosten. Aber seit wann schrickt der Franzose vor solchen zurück, wenn es sich darum handelt, das Vaterland zu retten? So geht die Kontroverse weiter.

In den letzten Tagen nun ist ein Projekt aufgetaucht, das in idealer Weise die beiden sich widersprechenden Standpunkte vereinigen will: es handelt sich einfach darum, jeden Fremden in der Währung seines Landes zahlen zu lassen, und zwar werden die Preise nach dem jeweiligen Index des betreffendes Landes berechnet. Beispiel: Der Kleidungsindex beträgt gegenwärtig in England 230, in Frankreich 450. Ein Anzug, der in Paris und für den Franzosen 900 Francs kosten würde, wird dem Engländer mit 460 Goldfrancs berechnet, das sind nicht ganz 20 Pfd. St. Die großen Geschäfte, Warenhäuser usw. erhalten eine Tabelle ausgehändigt, wo für jedes Land die Umrechnung vorgenommen ist. Kleinere Beträge, etwa unter 100 Francs, werden natürlich außer Betracht gelassen. Für alle höheren ist die Nationalität und der Wohnsitz des Käufers anzugeben.

Allerdings besteht die Gefahr, daß die Fremden französische Freunde mit den Ankäufen betrauen und dadurch das System unwirksam machen. Aber auch hier ist bereits vorgesorgt, wenigstens auf dem Papier: Für jeden größeren Ankauf müssen die Papiere vorgezeigt werden. Die Warenhäuser sind verpflichtet, die Namen ihrer Kunden der Steuerbehörde mitzuteilen. Stellt sich dann heraus, daß ein Franzose weit über seine Verhältnisse gekauft hat, so fordert ihn der Fiskus zu einer entsprechenden Nachzahlung auf, geht eventuell gegen ihn gerichtlich wegen Falschdeklarierung vor. Auf diese Weise hofft man, den Mittelsmann ins Bockshorn zu jagen und die Fremden zu zwingen, ihre Einkäufe selber vorzunehmen.

Meerestragödien in der Prater Hauptallee

Zwei Minuten vom Praterstern ist dem Besucher ein Blick in die Natur gegönnt.

Neue Freie Presse am 26. März 1934

In einen schmalen, geschmeidigen Katzenhai, der pfeilschnell die Wellen durchschießt, hat sich ein mächtiger Hummer verbissen. Mit seinen eisenstarken Scheren umklammert er den Raubfisch, der sich vergebens bemüht, der mörderischen Umschnürung zu entrinnen und den Todfeind abzuschütteln. Den Hummer auf dem Rücken, taucht der Katzenhai in die Tiefe, schnellt irrsinnig vor Schmerzen an die Oberfläche des Wassers empor, krümmt sich und streckt sich. Jetzt ein Krachen und Splittern, der Hummer hat den Katzenhai buchstäblich entzweigebrochen, in Todeszuckungen sinkt das besiegte Tier auf den Grund. Eine Tragödie, wie sie sich nicht etwa in der Adria, sondern im Aquarium der Wiener Biologischen Versuchtsanstalt in der Prater Hauptallee abgespielt hat. Der Nachfolger des getöteten Katzenhais aber verträgt sich mit dem Hummer ausgezeichnet, es geht jetzt im Bassin friedlich und idyllisch zu.

Die neue Seetiersendung, die im Aquarium eingetroffen und jetzt dort ausgestellt ist, bedeutet eine hochinteressante Bereicherung des Bivariums. Seesterne und See-Igel zeigen ihre phantastische Pracht. Ein vielgliedriger Polyp ringelt seine Fangarme um den Schaft einer Pflanze und saugt sich daran fest. Der elektrische Marmorrochen, Mondfische, Wasserkäfer, Goldnattern, Feuersalamander, Sonnenbarsch, Seerofen, Krabben, Meerschnecken - in verwirrender Vielgestaltigkeit und doch ungemein übersichtlich nach ihrer Familienzugehörigkeit gruppiert, bietet das kriechende, krabbelnde, schwimmende oder träg und schläfrig ruhende Durcheinander wunderlich geformter Tiere ein überwältigendes Bild. Und etwas so Alltägliches wie die Fütterung von Forellen wirkt mit der Eindringlichkeit eines Naturerlebnisses. In das Bassin, in dem sich einige fette Forellen tummeln, werden zahllose winzige Futterfische hineingelassen. Da begeben sich die Forellen auf die Jagd, Kreuz und quer schießen sie durch das Bassin, schnappen nach den kleinen Fischen, machen einander die zappelnde Beute streitig.

Ein Vorgang, wie er sich ununterbrochen in zahllosen Flüssen abspielt, wirkt hier, im gläsernen Bassin, als eindringliche und beklemmende Veranschaulichung des darwinistischen Prinzips vom Kampf ums Dasein. Wie schaut ein Tropfen Meereswasser in fünfhundertfacher Vergrößerung aus? Und wie ein Tropfen Sumpfwasser in achthundertfacher Vergrößerung? Der Wassertropfen ist von einem Gewimmel erfüllt wie der Hauptplatz einer großen Stadt zu belebtester Stunde. Im Bivarium in der Prater Hauptallee, zwei Minuten vom Praterstern, ist dem Besucher ein tiefer Blick in die Natur gegönnt.

Wie können Frauen bei der Polizei eingesetzt werden?

Der Chef des polizeilichen Sicherheitsdienstes spricht sich gegen uniformierte Polizistinnen, aber für die Heranziehung von Frauen zum kriminalpolizeilichen Dienst „für manche Fälle“ aus.

Neue Freie Presse am 25. März 1924

Der Chef des polizeilichen Sicherheitsdienstes, Polizeidirektor Dr. Bruno Schultz, sprach bei einem vom Bund österreichischer Frauenvereine veranstalteten Vortragsabend, dem auch zahlreiche Ehrengäste aus Kreisen der hohen Beamtenschaft anwohnten, über die Frau im Polizeidienste. Der Vortragende schilderte die Entwicklung des polizeilichen Dienstes, speziell im Hinblick auf soziale und fürsorgerische Aufgaben, beleuchtete die Tätigkeit der mitarbeitenden Frauen und führte aus, was von der Frau in Zukunft noch erwartet und gefordert werden kann.

So klar der Vortragende den so schwer definierbaren Begriff der Polizei auseinandersetzte, so gründlich versenkte er sich in das Problem der weiblichen Mitarbeit. Es bereitende den anwesenden Frauen Genugtuung, zu hören, daß von den 1200 bei der Polizei Beschäftigten, die nicht den Sicherheitswachleuten und den Kriminalbeamten angehören, 400 Frauen sind. Wenn auch die meisten im Kanzlei- und Verwaltungsdienst stehen, so gibt es doch schon eine ansehnliche Zahl, denen spezifisch polizeiliche Agenden übertragen wurden, die besonders für Frauen geeignet sind.

Das Fürsorgeamt, das polizeiliche Jugendheim, die dem polizeilichen Jugendamt übertragene Schutzaufsicht für bedingt verurteilte und bedingt begnadigte Jugendliche, die Trinkerrettung, das polizeiliche Sittenamt und schließlich die polizeiliche Gefangenenaufsicht erfreuen sich weiblicher Mitarbeit, die zum Teil so hoch eingeschätzt wird, daß sogar für eine akademisch graduierte Frau die Stelle einer Pflegekonsulentin im Sittenamte geschaffen wurde.

Bei der Erörterung der Frage, welche anderen polizeilichen Dienstzweige für Frauen noch in Betracht kommen, sprach sich Polizeidirektor Dr. Schultz gegen ihre Beschäftigung im Straßenaufsichtsdienste aus. Es ist dies eine persönliche Anschauung, da in anderen Ländern, in Amerika, England und in den nordischen Staaten, in der letzten Zeit auch im besetzten Köln, mit den sogenannten „Polizeimatronen“ gute Erfahrungen gemacht wurden. Es gibt weibliche uniformierte Polizisten, denen die Beaufsichtigung öffentlicher Anlagen und Parks zum Zwecke der Betreuung von gefährdeten und verirrten Kindern, zur Abwendung von sittlichen Gefahren für weibliche Jugendliche und zur Fürsorge für hilfsbedürftige Personen obliegt. Dagegen verspricht sich Dr. Schultz von der Heranziehung der Frauen zum kriminalpolizeilichen Dienst für manche Fälle einen großen Erfolg.

Reklame für “Schmutzliteratur” wird verboten

Der Ministerrat hat eine neue Verordnung “zum Schutze der Sittlichkeit und der Volksgesundheit” beschlossen.

Neue Freie Presse am 24. März 1934

Der Ministerrat hat gestern eine Verordnung beschlossen, die an die Stelle der Verordnung vom 26 Mai 1933 zum Schutze der Sittlichkeit und der Volksgesundheit tritt. Die neue Verordnung ergänzt die bestehenden Vorschriften, die sich gegen sittlich anstößige Lichtbilder und Ansichtskarten richten, durch ein Verbot der Ankündigung des Vertriebes solche Lichtbilder und Ansichtskarten, also das Vertriebes von Aktbildern, “Pariser Fotografien” und dergleichen.

Sie enthält ferner eine Reihe von Bestimmungen, die eine wirksamere Bekämpfung der Schmutzliteratur ermöglichen sollen. Vor allem wendet sie sich gegen die Reklame für erotische Werke, insbesondere ist künftig untersagt: das öffentliche Ausstellen von Büchern und Zeitungen, deren Titel oder äußere Ausstattung auf einen unzüchtigen Inhalt der Schrift hinweist oder einen solchen Inhalt vortäuscht, und zwar offenbar zu dem Zweck der geschäftlichen Ausnutzung geschlechtlicher Begehrlichkeit; die Verbreitung von Katalogen und Prospekten, die ausschließlich oder vorwiegend Ankündigungen solche Druckwerke enthalten, die Ankündigung derartiger Werke in Zeitungen und die Aufnahme eines wenn auch unwahren Hinweises auf einen unzüchtigen Inhalt einer Schrift in Ankündigungen, die in Zeitungen oder geschäftlichen Mitteilungen enthalten sind.

Gleichzeitig werden die Bestimmungen der Gewerbeordnung über die Konzessionsentziehung für den Fall des Vertriebes unzüchtiger Druckwerke durch Buch- und Kunsthändler und Inhaber von Leihbüchereien verschärft. Die schon in der Verordnung vom 26.Mai 1933 enthaltenen Bestimmungen gegen die aufdringliche Reklame für empfängnisverhütende Mittel werden in der neuen Verordnung weiter ausgebaut. Kataloge und Preislisten über Mittel, die zur Verhütung der Empfängnis und zugleich zum Schutz gegen Geschlechtskrankheiten dienen, dürfen nur Personen, die - wie Händler, Ärzte und dergleichen - ein berufliches Interesse daran haben, ohne besonderes Verlangen zugesendet oder ausgefolgt werden.

Von der Straße aus sichtbare Ankündigungen, die sich eindeutig nur auf solche Mittel beziehen, dürfen künftig auch vor oder in Räumen zum Verkauf befugter Unternehmungen nicht in einer aufdringlichen, bei der Ankündigung anderer Waren des Unternehmens nicht angewendeten Weise oder Form angebracht werden. Schließlich verbietet die Verordnung auch das Anschlagen oder Aushängen eines Hinweises auf Räume, wo automatische Verkaufsapparate für empfängnisverhütende Mittel angebracht sind.

Das Ende des “New York Herald”

Eine nationale Institution ist gescheitert.

Neue Freie Presse am 23. März 1924

Die Nachricht, daß Frank Munsen den “Newyork Herald” an den Besitzer der “News Tribune”, Ogden Reid, verkaufte, wird bestätigt. Damit ist die größte Transaktion, die jemals auf dem Gebiete des Zeitungswesens durchgeführt worden ist, perfekt geworden. Die beiden Blätter erscheinen von nun an verschmolzen unter dem Namen “News Tribune”. (...)

Ein Dreadnought der Journalpolitik ist gescheitert. Der Newyork Herald ist beinahe neunzig Jahre alt geworden, und jedesmal, wenn ein so gewaltiger Organismus zusammenstürzt und sich dem Ende zuneigt, ist das Gefühl der tiefen Wehmut nicht abzuweisen. So tausendfache Arbeitet verschwendet und verloren, so viele tausende von Nächten umsonst verwacht, so viele Erfolge, die Blitzlichter, die der Tag uns zuwirft, versenkt und verschollen!

Amerika ohne Newyork Herald, ohne diese nationale Institution, das ist so, als wolle man England denken ohne die Times und Frankreich ohne den Temps. Land und Zeitung schienen zusammen zu gehören, wie Zettel und Einschlag, miteinander verwoben in scheinbar nicht zu zerstörender Gemeinschaft. Nun ist dieses Band zerrissen, und wie bei den alten Adelsgeschlechtern sollte ein Herold das Wappen über dem Grabe des Newyork Herald zerbrechen, das Wappen das er beinahe durch ein Jahrhundert zum journalistischen Erfolge geführt hat. 

Plädoyer des Staatsanwalts im Hitler-Prozess

Hitler habe sich des Verbrechens des Hochverrates schuldig gemacht, sagt der Staatsanwalt.Hitlers Verteidiger fordert hingegen die Freisprechung seines Mandanten.

Neue Freie Presse am 22. März 1924

Der Staatsanwalt beschäftigt sich nun mit Hitler, dem er zunächst ein gutes Zeugnis als Soldat und Patriot ausstellt. Sein ehrliches Streben, sagte der Staatsanwalt, bleibe unter allen Umständen ein Verdienst. Es wäre auch ungerecht, ihn als Demagogen zu bezeichnen. Sein Privatleben hat er stets rein gehalten. Bis in den November des vergangenen Jahres bestand kein Zweifel, daß er von Sonderbestrebungen frei war. Dann kam unter der Einwicklung der ihm beschiedenen Erfolge als Volksführer und Parteileiter die Wandlung in sein Wesen, begünstigt durch die Hemmungslosigkeit seines Charakters. Ihn trifft die Hauptverantwortung für die Ereignisse

.Namentlich hat er die Vorbereitungen für den Putsch getroffen. Er hat versucht, das Mitmachen Kahrs, Lossows und Seissers zu erzwingen, er hat den Marsch nach Berlin vorbereitet, die Verhaftung der Minister angeordnet, die Vorgänge im Gebäude der „Münchner Post“ verschuldet, im Stadtrat Geiseln verhaftet, die Besetzung der Kaserne und Polizeidirektion versucht, Gelder in Druckereien beschlagnahmt, die rechte Isarseite gewaltsam besetzt, den Demonstrationszug der Zugsteilnehmer angeordnet. Hitler hat sich des Verbrechens des Hochverrates schuldig gemacht und durch seine revolutionäre Aktion schwere inner- und außenpolitische Gefahren heraufbeschworen. (...)

In der Nachmittagsverhandlung sprach der Verteidiger Hitlers, Rechtsanwalt Dr. Roder. Er führte aus, Hitler habe seine ganze Kraft zur Verfügung gestellt für eine Sache, die er für gerecht hielt, für den Kampf, der bayerischen Staatsgewalt gegen die Berliner Regierung. Hitler und die anderen Angeklagten hätten nichts weiter getan, als mit Kahr, den sie als die Verkörperung der bayerischen Staatsgewalt erachteten, mitzuwirken. Es gebe nur einen Antrag, und zwar den auf Freisprechung Hitlers. Die Freisprechung würde bedeuten, daß Hitler seiner Arbeit zurückgegeben werde, durch die es bisher ermöglicht worden sei, daß Kahr und die anderen Herren an der Spitze Bayerns stehen können. Hitler sei es, der dem Hoch- und Landesverrat von 1918 alle die Jahre her auf den Leib gerückt sei, der die Kräfte festgemacht habe und künftig freimachen werde, die das Gedeihen des deutschen Vaterlandes in die Wege leiten. Durch den Freispruch würde dem Vaterland im Sinne von Recht und Gesetz der beste Dienst erwiesen werden.

Verbilligung des Insulins

Die Herstellung von Insulin, das sich als Heilmittel in schweren Fällen von Zuckerkrankheit bewährt hat, ist so weit fortgeschritten, dass der Inlandbedarf nicht mehr auf die ausländischen Produkte angewiesen ist.

Neue Freie Presse am 21. März 1924

Amtlich wird gemeldet: Die Herstellung des im Physiologischen Institut zu Toronto zuerst erzeugten Insulins, das sich als Heilmittel in schweren Fällen von Zuckerkrankheit bewährt hat, ist nun auch bei der chemisch-pharmazeutischen Industrie Oesterreichs so weit fortgeschritten, daß der Inlandbedarf nicht mehr auf die ausländischen Produkte allein angewiesen ist.

Wenngleich die Herstellung dieses Heilinstruments noch immer mit ganz unverhältnismäßig hohen Kosten verbunden ist, hat die Inlanderzeugung doch eine ganz bedeutende Herabsetzung des Erzeugungspreises zur Folge gehabt, so daß sich die Detailpreise der verschiedenen Packungen zwischen 150.000 und 260.000 Kronen bewegen. Im Hinblick auf die Notwendigkeit, dieses Mittel möglichst vielen Schichten der Bevölkerung zugänglich zu machen, wurden auch die Detailverkaufspreise in sehr ermäßigten Grenzen gehalten.

Die Gans des Ministerpräsidenten

Es passierte am Leipziger Hauptbahnhof. Mit einer Gans unter dem Arm trat ein Mann, der einen Strafaufschub erwirken wollte, an den allmächtigen Staatswürdenträger und Parteiführer heran. Und dieser nahm sie an.

Neue Freie Presse am 20. März 1924

Der künftige Kunsthistoriker unserer Gegenwart wird sich voraussichtlich seine Gedanken machen über das Sprung- und Schwindelhafte so mancher Karriere, die im zweiten Dezennium unseres Jahrhunderts verzeichnet werden konnte. Aber manchmal sind die Abstiege noch viel merkwürdiger als die Aufstiege, und die Entgleisungen gewähren den deutlichsten Aufschluß über die Zeit und ihre Menschen. Da wird jetzt in Leipzig der Bestechungsprozeß gegen den ehemaligen sächsischen Ministerpräsidenten Dr. Zeigner abgeführt. Man liest von 1009 Mark und von einer Pelzjacke, von einem Zentner Weizenmehl und einer Weihnachtsgans. Ein zynisches Wort kennzeichnete seinerzeit die Leute, die so geringe Beträge einstecken, daß es beinahe an die Unbestechlichkeit grenzt. Dieses Diktum kommt einem im Falle Zeigner in die Erinnerung. Vor dem hat wohl niemand im Ernst geglaubt, daß der oberste Beamte eines deutschen Bundesstaates überhaupt käuflich sei, und jedenfalls hätte er es sich noch weniger träumen lassen, den Preis so niedrig einzuschätzen.

Wäre die Sache nicht so furchtbar tragisch, dann fühlte man sich beinahe versucht, es zu bedauern, daß der Stoff keinem geistreichen Franzosen in die Hände gekommen ist. Von den deutschen Autoren der Gegenwart wäre er höchstens für Sternheim geeignet gewesen, und der hätte ihn voraussichtlich überspitzt und verpatzt. Was hätte aber ein Graf Beust dazu gesagt, wenn man ihm zu seinen Lebzeiten mitgeteilt hätte, daß einer seiner Nachfolger der lockenden Versuchung eines festtägigen Bratens nicht gewachsen sein würde. Der Herr Revisor Nikolaus Gogols befindet sich doch auf einer wesentlich niedrigeren Rangstufe. Um die Demokratisierung ist es gewiß eine wunderschöne Sache, und gern vermißt man jene äußerliche Höhe und Würde, die in der Zeit vor dem Umsturz den Hof- und Staatsminister in der goldstrotzenden Uniform stacheldrahtartig von jeder Berührung mit er Misera plebs der Steuerzahler und Bittsteller abschloß. Aber die Gemütlichkeit ist doch entschieden übertrieben, durch die sich jene kuriose Szene charakterisiert, in der Minister und Bittsteller, eben jener Bittsteller, der dann sein Petit durch das Gansbratenargument so wirksam unterstützte, zusammentrafen.

Ort der Handlung der Leipziger Hauptbahnhof. Mit der wohlgeschoppten Gans unter dem Arm tritt der Mann, der sich einen Strafaufschub erwirken will, an den allmächtigen Staatswürdenträger und Parteiführer heran. „Ein Wort an den Minister“, wie der bekannte Luftspieltitel lautet, wird dadurch unterstützt, daß die Gans tief erschreckend zu schnattern beginnt. Der Minister wird schwach. Das Wasser läuft ihm im Mund zusammen. Wie sagte er in der Verhandlung? Die Gans wurde mir aufgedrängt! Sein Widerpart drückte sie ihm förmlich in die Arme. Wenn er sich aber geweigert, am Ende gar so etwas wie Grundsätze hervorgekehrt hätte, dann wäre es zu einer Straßenszene gekommen. Die herrenlose Gans hätte unliebsames Aufsehen hervorgerufen. Sie hätte nicht das Kapitol gerettet, wohl aber den Minister vom Tarpeischen Felsen hinuntergestürzt. Was sollte der arme Staatsmann tun? Er hat die Gans an seine Brust genommen, um sie später seinem Faktotum - vom Spießgesellen spricht die Anklage - abzutreten.

Dieses Faktotum ist aber ein Kapitel für sich. Und hier beginnt die Geschichte vom bestochenen Ministerpräsidenten aus dem Tragikomischen wieder ins ausschließlich Tragische zurückzubiegen. Der böse Geist Dr. Zeigners war bei irgendeiner verhältnismäßig unbedeutenden Mehlschieberei, bei einer jener Gelegenheiten der Kriegs- und Nachkriegszeit, wo so viele Leute ein kautschukartig dehnbares Gewissen an den Tag legten, Zeigners Mitwisser geworden. Jetzt schlug er aus seinen Kenntnissen Kapital. Von allen Handwerken hat heutzutage das Erpressungshandwerk den goldenen Boden. Der arme Teufel von einem Minister wurde förmlich vorwärts gepeitscht auf dem Weg der Amtsmißbräuche, der sittlichen und amtlichen Verfehlungen. Der scheinbar mächtigste Mann von Sachsen war Wachs in den Händen eines Durchschnittslumpen, der ihm jeden Augenblick nachzuweisen vermochte, daß er seiner kommunistischen Weltanschauung vorzeitig praktischen, allzu praktischen Ausdruck verliehen habe.

Der Arierparagraph im Alpenverein

Der Beweis ist geliefert: Viele Mitglieder sind aus völkischen Zwecken, zur Durchsetzung des Arierpunktes, der Sektion beigetreten und nach Erreichung dieses Zieles wieder ausgeblieben.

Neue Freie Presse am 19. März 1924

Man schreibt uns: Wie noch in allgemeiner Erinnerung stehend, wurde der sogenannte „Arierpunkt“ in der Sektion „Austria“ des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereines mit einer alle Kenner der Sektion überraschenden Majorität angenommen.

Woher diese Majorität stammte, die den Austritt verdienstvoller Mitglieder, die jahrelang durch ihre touristischen und ideellen Leistungen zum Aufstieg des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereines beigetragen haben, herbeiführte, wurde jetzt in der ordentlichen Jahresversammlung der Sektion offenbar, denn der Vorstand Hofrat Bichl begründete das Sinken des Mitgliederstandes damit, „daß viele Mitglieder aus völkischen Zwecken, zur Durchsetzung des Arierpunktes, der Sektion beigetreten waren und nach Erreichung dieses Zieles, da sie keine ausübenden Bergsteiger sind, ausgeblieben seien; man können ihnen daraus gar keinen Vorwurf machen“.

Damit ist nun der Beweis geliefert, daß vollkommen der Touristik fernstehende, nur zu Parteizwecken aufgenommene Mitglieder langjährige hochtouristische Mitglieder aus dem von ihnen mitbegründeten Verein hinausgedrängt haben.

Ein „fideles” Gefängnis in Polen

Gefängnisinsassen verbrachten ihre Tage bei Bekannten oder im Wirtshaus.

Neue Freie Presse am 18. März 1934

Der vergnügte Frosch in der „Fledermaus“ von Johann Strauß hat gegenwärtig in Polen einen würdigen Nachfolger gefunden. Es ist dies der Gefängnisaufseher von Bialowies namens Nikita. Das fidele Gefängnis von Bialowies wäre der Welt vielleicht unbekannt geblieben, wenn nicht von einem polnischen Blatt ein „Offener Brief an den gemütlichen Herrn Nikita“ veröffentlicht worden wäre.

Aus diesem Brief erfährt man, daß Herr Nikita sein Vorbild in der „Fledermaus“ sogar übertroffen hat. Die Insassen des von ihm beaufsichtigten Gefängnisses durften nach Belieben aus- und eingehen. In der Regel wurde der Arrest von ihnen nur als „Nachtquartier“ benützt, während sie den Tag bei Bekannten oder im Wirtshaus verbrachten. Von Zeit zu Zeit aber wurden im Gefängnis selbst unter Patronanz des famosen Aufsehers Trinkgelage veranstaltet.

Wer weiß, wie lange wohl noch diese Gefängnisidylle hätte fortbestehen können, wenn ihr nicht unerwartet der Garaus gemacht worden wäre. Das “Cherchez la femme” gab dazu den Anlaß. Einer der Insassen nämlich verliebte sich in eine „Kollegin“ und zog es vor, mit ihr zusammen dem fidelen Gefängnis für immer den Rücken zu kehren. Gegen das verliebte Pärchen wurden jedoch Steckbriefe erlassen, und so kam die Gefängnisidylle ans Tageslicht.

Der letzte kaiserliche Hofkoch gestorben

Auf Reisen musste Rudolf Munsch im engen Raum des Küchenwagens oft Kunstwerke auf kulinarischem Gebiete schaffen.

Neue Freie Presse am 17. März 1934

Vor kurzem ist in Wien der letzte Chef der k. u. k. Hofküche, Rudolf Munsch, im 69. Lebensjahr gestorben und wurde auf dem Hietzinger Friedhof bestattet. Er entstammte einer alten Gastwirtsfamilie, die ursprünglich in Göllersdorf und seit 1750 in Wien Gasthöfe betrieb.

Einer seiner Vorfahren Franz Munsch, der zugleich Erbpostmeister von Stockerau war, stand dem Hotel Schwan auf dem Neuen Markt vor, auf dessen Stiege Graf Sandor, „der Teufelsreiter“ seine kühnen Kunststücke vollführte. Rudolf kam mit vierzehn Jahren als Küchenjunge ins Hotel Imperial, dann als Koch in den Jockeiklub, hierauf für kurze Zeit nach Italien und nach Berlin. Nach Wien zurückgekehrt, avancierte er zum Hofküchenchef. Neun Jahre lang war er der Kaiserin Elisabeth zugeteilt, die er auf allen ihren Reisen begleitete.

Nach dem Ableben der Kaiserin wurde er Koch bei Kaiser Franz Josef, für den er in Schönbrunn und in der Hofburg, bei den Hofjagden und den Kaisermanövern tätig war. Auf Reisen mußte er im engen Raum des Küchenwagens oft Kunstwerke auf kulinarischem Gebiete schaffen. Ihm oblag auch die Zusammenstellung der Speisenfolge bei den Galatafeln. Er besaß dreizehn ausländische Auszeichnungen und wurde von Kaiser Franz Josef durch die Verleihung des goldenen Verdienstkreuzes geehrt. Nach dem Tode des alten Kaisers blieb er auch bei Kaiser Karl Küchenchef, begleitete ihn auf seinen Fahrten an die Front und nach Kriegsschluß auch nach Eckartsau.

Nachdem die kaiserliche Familie Oesterreich verlassen hatte, wurde Munsch ins Rechnungsdepartement übernommen und im Jahre 1921 pensioniert. Er nahm dann die Stelle eines Bufettchefs bei der Firma Stiebitz an, von wo er sich erst vor zwei Jahren in den Ruhestand zurückzog. Er hinterläßt eine wertvolle Gemälde- und Autographensammlung. Diese enthält auch Briefe von Napoleon und Metternicht und ein Autogramm von Marie Antoinette.

Ein Tramway-Knigge

In der Tramway gerieten ein Fußballer - ein Publikumsliebling - und ein Straßenbahnschaffner aneinander.

Neue Freie Presse am 16. März 1934

Fußballer und Straßenbahnschaffner waren aneinandergeraten. Der Fußballer ist ein Publikumsliebling, der Straßenbahnschaffner aber viel mehr, nämlich eine Amtsperson. Mit Amtspersonen ist nicht gut Kirschen essen. Man bekommt nur allzu leicht die Kerne an den Kopf.

Die Amtsperson in Straßenbahnuniform verlangte von dem Fußballer und Straßenbahnpassagier, er solle sich gefälligst niedersetzen. Wie gern und wie oft möchte man sich in der Straßenbahn niedersetzen und es geht beim besten Willen nicht! Einmal ist aber merkwürdigerweise ein Sitzplatz frei, und da ist im Waggon ein Martin Luther und sagt: Hier stehe ich und kann nicht anders! Der Fußballer hatte guten Grund, sein Recht auf die Stehfreiheit zu verfechten. Er laboriert nämlich an einer Verletzung, die ihm das Sitzen beschwerlich macht und die er sich von Berufs wegen auf dem Felde der Fußballehre zugezogen hat. Das konnte der Schaffner allerdings nicht ahnen, und da der stehende Fußballer augenscheinlich den Verkehr im Wagen behinderte, sah er sich zu einer drastischen Bemerkung veranlaßt. Er meinte nämlich, der obstinate Fußballer sei betrunken, und drückte diese Ansicht in einer ebenso deutlichen wie in der Wiener Vorstadt gebräuchlichen Art aus. Das konnte aber wieder der Fußballer nicht auf sich sitzen lassen. Schon deshalb nicht, weil er, um in Form zu bleiben, in strenger Abstinenz ist. Er kleidete seine Abwehr in die ebenfalls echt wienerische Formel: „Wenn i b‘soffen bin, dann san Sö teppert!“ Worauf er wegen Amtsehrenbeleidigung angezeigt und gestern zu zehn Schilling Geldstrafe verurteilt wurde.

Der Schaffner leugnete nicht einmal, daß er jenen Ausspruch getan habe. Nur insofern schränkt er ihn ein, daß er gesagt haben will: „Wenn Sie ... sind, dann gehen Sie auf die Plattform!“ Wodurch ein interessiertes Publikum erfährt, daß Leute, die des Guten zuviel getan haben, auf der Plattform interniert werden. Die Straßenbahndirektion hat übrigens, wie man in der Verhandlung gleichfalls erfuhr, die Umgangsformen des Schaffners keineswegs gebilligt und ihm einen disziplinären Verweis erteilt. Was aber nicht genügte, um dem Fußballer und Tormann des Wunderteams seine Unbescholtenheit zu bewahren. Der Richter ging, durch den Wortlaut des Gesetzes dazu gezwungen, mit einem Schuldspruch vor, obwohl der angeklagte Fußballer sein Urteil über die Geistesbeschaffenheit des Schaffners vorsichtigerweise nur hypothetisch abgegeben hatte.

Die Moral dieser nüchternen Straßenbahngeschichte ist einerseits darin gelegen, daß die reguläre Straßenbahnüberfüllung auch ihr Gutes hat. Hätte der Straßenbahnwagen das gewahrte Bild einer Heringstonne gewiesen, dann wäre es dem Schaffner nicht im Traum eingefallen, das Machtwort „Niedersetzen!“ auszusprechen, und das Wunderteam wäre nicht in Gestalt seines Tormannes vor Gericht knockout geschlagen worden. Anderseits aber wäre es vielleicht angebracht, sich den Paragraphen über die Amtsehrenbeleidigung gelegentlich näher anzuschauen und zu erwägen, ob nicht eine kleine Notverordnung zum Schutz des nichtbeamteten Publikums sich empfehlen würde.

Neue Pariser Hüte

Viele der Pariser Modehäuser haben sich eigene Hutdepartements angegliedert.

Neue Freie Presse am 15. März 1934

Aus Paris schreibt uns eine Wienerin: Der Hut darf kein Eigenleben führen: er muß sich in Farbe und Material der übrigen Kleidung anpassen; muß sich je nach der herrschenden Mode mit der Toilette, dem Mantel oder mit den jetzt so wichtigen Zutaten verbinden. Hier lächelt ein roter Canotier verschmitzt der rot-weißen Schärpe zu, hier liebäugelt eine blaue Capeline mit dem blauen Täschchen, und bewundernd blickt der grüne Gürtel zu dem schiefen grünen Käppchen auf! Um die Kunst des „Ensembles“ zu fördern, haben viele der ersten Pariser Modehäuser sich auch eigene Hutdepartements angegliedert.

Chanel hat es als erste versucht, der Frühlingshutmode eine jugendliche, erheiternde Grundstimmung zu verleihen; sie putzt ihre kleinen Matrosenhüte rückwärts mit reizenden Blumenspangen, welche die Formen vorn tief in die Stirn rücken. Schiaparelli betont eine beflügelte Silhouette, auf ihren Hüten stecken Kiele, Schleifen, Gefieder. Molyneux gesellt seinen Mandarinmänteln, seinen Kimonoärmeln große, flache Chinesenhüte. Suzanne Talbon zeigt tugendhafte Kopfbedeckungen, würdig einer Heilsarmee. Maria Guy setzt kühne Piratenformen auf das schöne Haupt ihrer Lieblingskunden, und Rebaux, die Doyenne aller Modistinnen, umrahmt die Innenseite ihrer Capeline mit einem Glorienschein von gelben Primeln.

Abends, da man wieder die bildhaften, großen Gainsborough- und Reynolds-Formen trägt, da wogen die Federn, Reiher und Aigretten. Alice Orane, eine neue Modekonkurrentin, huldigt dem Prinzip, daß Reisen die moderne Frau verjüngt, indem es ihr neue Interessen und Anregung eröffnet. Um die Illusion zu vervollständigen, ist ihr Atelier dem Promenadendeck eines Luxusdampfers nachgebildet, und um ihre Damen reiselustig zu stimmen, bietet sie ihnen reizende Zweispitze und weiche, aufgebogene Filzhüte, die alle durch ihre himmelwärts strebenden Formen die geheime Mission der Hüte erfüllen: sie spenden Mut, Lebensfreude und die tausend Möglichkeiten, die vorteilhafte Hüte unausbleiblich im Gefolge führen.

Die Gefahr der Pornographie

Die Freiheit wurde nicht deshalb als Errungenschaft erobert, weil der Hemmungslosigkeit, der Unverantwortlichkeit und der skrupellosen Gewinnsucht die Bahn geöffnet werden sollte.

Neue Freie Presse am 14. März 1924

Der Bundeskanzler hat Mittwoch eine Rede gehalten, in der er sich mit scharfen Worten gegen die Ueberhandnahme der Schundliteratur wandte. Eine solche Flut von Pornographie, rief Dr. Seipel aus, habe es in Wien noch nicht gegeben, und auch im Theater nehme die Verwilderung in erschreckender Weise zu. Der Bundeskanzler stellte allerdings fest, daß die Polizei die Verbreitung von Machwerken, die mit Literatur und ernster Publizistik nichts zu tun haben, in der Nähe der Schulen verbiete, doch diese Maßnahmen werden dann von den Herren im Rathause wieder aufgehoben. Und ähnlich liegen die Dinge beim Theater. In der ganzen Welt, so führte der Bundeskanzler mit vollem Recht aus, spricht und schreibt man davon, daß die Gesundung der Seelen notwendig sei, daß die Menschen innerlich wieder anders werden müssen, als sie im Wirbel der letzten Jahre geworden sind. Auch die österreichische Arbeiterschaft könne kein Verlangen danach tragen, daß der Pornographie die Gasse, und nicht nur die Gasse, sondern auch die Familie und die Kinderseele freigegeben werden.

Es ist in der Tat hoch an der Zeit, daß man mit sich darüber ins klare kommt, was die wahre Demokratie bedeutet und was sie verhindern soll. Die Freiheit wurde nicht deshalb als Errungenschaft erobert, weil der Hemmungslosigkeit, der Unverantwortlichkeit und der skrupellosen Gewinnsucht die Bahn geöffnet werden sollte, sondern weil man im Gegenteil daran dachte, die besten Kräfte im Volke nutzbar zu machen. Es ist deshalb ein verdammenswerter Mißbrauch, wenn die Preßfreiheit, die Zurückdrängung der Zensur, die Möglichkeit der ungehinderten Reportage dazu benützt wird, unter dem Deckmantel einer heuchlerischen Sachlichkeit, oder auch ohne diesen, auf die bösesten Instinkte zu spekulieren, und wenn man vor allem auf die Jugend, auf die Seele der heranwachsenden Generation, keinerlei Rücksicht nimmt.

Gewiß, jedes Muckertum, jede falsche Prüderie ist uns fern, und die wahre Kunst, die immer irgendwie von sittlichen Idealen geleitet ist, darf in ihrer Bewegungsfreiheit nicht gestört werden. Da aber, so die krasseste Geschäftsgier am Werke ist, wo immer wieder neue Schmutzfluten in das Volk geworfen werden, ist die Berufung auf die Freiheit ganz und gar unbegründet und die Behörden haben darüber zu wachen, daß die Grundlagen der Sittlichkeit nicht systematisch unterwühlt und halbwüchsige Geschöpfe nicht mit gedrucktem, gesprochenem und gefilmten Gift versehen werden. Die Vielregiererei, die Sucht sich in alles einzumengen, bedeutet zweifellos ein Uebel, das man bekämpfen muß. Aber es geht auch nicht an, müßig zuzusehen, wie die Unzucht gepredigt und die überlieferte Moral verhöhnt wird. Erwachsene können sich vor der Pornographie selbst schützen, aber die unreife Jugend ist wehrlos, und man muß sie vor den Attacken auf ihre Seele bewahren. Auch im Rathause kann man nicht wünschen, daß die Sittenlosigkeit wachse und daß die Kinder schweren Gefahren ausgesetzt bleiben.

Freilich, es wird sich immer darum handeln, den richtigen Takt zu bekunden und nicht aus einer beabsichtigten Wohltat eine Plage zu machen. Die Obrigkeit im alten Stil ist längst verjährt und sie darf nicht wieder aus dem Grabe emporsteigen. Die moderne Behörde jedoch muß wissen, wo ihre Rechte beginnen und aufhören, wo sie sich der Bevölkerung anzunehmen hat, wo es wirklich Schutzbedürftige gibt. Ein Fall, der gestern das Gericht beschäftigte, zeigt, wohin es führt, wenn der Uebereifer eines Sittenkommissärs sich unheilvoll betätigt, und wenn die Behörde da aufmarschiert, wo sie nichts zu suchen hat. Die Preßfreiheit, die Meinungsfreiheit, die Freiheit der Kunst muß unangetastet bleiben. Gegen das Wüten der Pornographie, gegen die Bedrohung der Jugend durch die Prediger der Unmoral soll aber ein Damm aufgerichtet werden.

Das Edelweiß ist italienisch geworden

Der Friedensvertrag hat das Vergißmeinnicht der Alpenbewohner zu einer italienischen Blume gemacht.

Neue Freie Presse am 13. März 1924

Aus München wird uns geschrieben: Der Friedensvertrag hat auch in die Geschichte der Blumen eingegriffen. Er hat das Edelweiß, das wir gewohnt waren, als deutsche Blume zu betrachten, dies Sinnbild kühner und doch sentimentaler Liebe, das „Vergißmeinnicht“ der Alpenbewohner, zu einer italienischen Blume gemacht.

In den deutschen Bergen ist diese seltene Pflanze ja immer seltener geworden; Unverstand und Geschäftssinn, der besonders durch die Nachfrage der Flachländler gestärkt wurde, hat dieses Blumlein fast ausgerottet und wie die Gemsen an Stellen zurückgedrängt, wohin sich der große Strom der Bergsteiger nicht wagt. Freilich, wer einmal von München nach Salzburg oder Kufstein gefahren ist, wird meinen, man könne in der Nähe von Rosenheim und Holzkirchen Edelweiß mit der Sense mähen. Die „Edelweißjungfauen“, die dort auf den Bahnsteigen in feschen Dirndlkostümen die hübschen Edelweißbuschen verkaufen, sind gewöhnlich das erste „alpine Erlebnis“ dieser Alpenreisenden. Und wenn sie sich auch nicht gleich bei der Fahrt in die Berge mit einem solchen Strauß versorgen - viele träumen davon, ihrer daheimgebliebenen Liebsten das Edelweiß selber an einer „verstiegenen“ Stelle zu pflücken -, auf der Rückreise raufen sie sich um einen solchen Strauß.

Denn sie haben unterdessen eingesehen, daß das Edelweiß nicht wie das Gänseblümchen wächst. Darum sind sie auf diese Blume, die von Liebe und todesmutigem Wagnis spricht, schärfer aus, denn zuvor. Mit der nackten, nüchternen „Alpenstange“ in Berlin oder Leipzig einziehen? Nein! Man müßte sich schäme. Diese „Sonntage-Edelweiß-Jäger“ sind die besten Kunden der „Edelweißjungfrauen“ in Rosenheim, Holzkirchen und Partenkirchen. Es ist geradezu unglaublich, wie viele Tausende dieser schönen Bergsterne während der Fremdensaison an einem Tag verkauft werden. Von den bayerischen Bergen werden diese Edelweißsterne aber nicht heruntergeholt. Sie müssen importiert werden.

Man hat zwar in Tegernsee, Reichenhall und Garmisch Versuche gemacht, Edelweiß zu züchten. Aber dieses zivilisierte Gartenedelweiß hat nicht das schöne Weiß; es ist grau und hat einen für die Pressung ungeeigneten, saftigen Stengel. Das Edelweiß, das in Bayern verkauft wird, stammt vielmehr ausnahmslos aus einem engumgrenzten Bezirk der Ostalpen, wo es noch in großen Mengen wächst. Eine ganze Hausindustrie beschäftigt sich dort mit dem „Brocken“, Pressen und Versenden des Edelweißes. Die Blumen werden meist von Kindern und Frauen von den leicht erreichbaren, allerdings sorgsam behandelten Pätzen geholt und dann zu Hause gepreßt. In jenen Dörfern gibt es einige „Edelweißverleger“, die die zur Handelsware gewordene Blume der Poesie nach Qualität - es gibt vier Stufen der Edelweißschönheit - sortieren und zu je 25 Stück zwischen zwei Blättern Papier zu Sendungen zusammenstellen und dann exportieren. Nach Bayern kommen jedes Frühjahr die Edelweißreisenden, um ihre Waren anzubringen. Jene Edelweißgegend ist aber nun italienisch geworden.

Die Amtsehrenbeleidigung

Eine Dame wurde wegen Amtsehrenbeleidigung verurteilt. Es sie ihr nicht im Schlaf eingefallen, dass ein „Mistbauer“ als eine Amtsperson anzusehen sei.

Neue Freie Presse am 12. März 1924

Es unterliegt nicht dem leisesten Zweifel, daß ein Kehrichtausleger der Gemeinde Wien es sich nicht gefallen lassen muß, wenn man ihm mit den Nägeln ins Gesicht fährt und ihn zerkratzt. Dazu bestand für ihn nicht einmal damals eine Nötigung, als er die mundgerechtere, freilich auch weniger feierliche Bezeichnung des Mistbauers führte und dem Wiener Volksfängertum satirischen Stoff in Hülle und Fülle bot. Nicht mehr als recht und billig, daß jene Hausmeisterin, welche die neue Kehrrichtordnung anders kommentierte als das kommunale Exekutivorgan, in Strafe genommen wurde; als sie bei den Wangen ihres Gegners dasjenige tat, was die meisten ihrer Berufskollegen leider auch im heurigen Winter bei dem eisbedeckten Trottoir verabsäumt hatten. Das Aufkratzen und das Aufhacken nämlich. Jene Dame ist jedoch, wie heute in der Gerichtssaalrubrik zu lesen war, wegen des Delikts der Amtsehrenbeleidigung verurteilt worden. Die unbedingt glaubhafte Versicherung nützte ihr nichts, es sei ihr auch nicht im Schlaf eingefallen den Mistbauer für eine Amtsperson anzusehen.

Der Richter mußte sich an den Wortlaut des sattsam bekannten Artikel 5 des Gesetzes vom Dezember 1802 halten und an das Anstellungsdekret des städtischen Organs. Aber wieder einmal drängt sich die neugierige Frage auf, ob es nicht hoch an der Zeit wäre, die Begriffe Amtsperson und Amtsehrenbeleidigung einer den modernen Anschauungen gemäßen Revision zu unterziehen. Daß das Delikt der Amtsehrenbeleidigung am häufigsten auf der Straßenbahn begangen wird, ist eine allgemein bekannte Tatsache, und die Häufigkeit der einschlägigen Anklagen und Verurteilungen mag dazu geführt haben, daß die Vorstellung vom Straßenbahnschaffner als einer Amtsperson weiteren Kreisen bereits glücklich eingebläut worden ist.

Dagegen kommt das Publikum mit dem städtischen Kehrichtausleger höchstens in den Tagen um Neujahr herum in nähere Berührung. Die Hausgehilfen die das Mistkistl oder in den bevorzugten Bezirken das luftdicht verschließbare Blechgefäß zum Haustor hinunterträgt, bildet vielleicht die einzige Ausnahme. Als aber der Kehrichtausleger noch Mistbauer hieß, pflegte sich der Verkehr zwischen ihm und den dienstbaren Geistern des Hauses in so liebenswürdigen und urbanen Formen abzuspielen, daß eine, einfache, geschweige denn eine Amtsehrenbeleidigung so gut wie ausgeschlossen schien. Hoffentlich ist in dieser Beziehung keine Aenderung eingetreten, seitdem es keine Mistbauer mehr gibt und keine Dienstboten, sondern ausschließlich Kehrichtausleger und Hausgehilfinnen.

Das übrige Wien begnügte sich damit, auf den Mistbauer und dessen Betätigung im Dienste der Tuberkuloseausbreitung zu schimpfen, und die Volksfänger agitieren, wie gesagt, in ihrer Weise gegen diese kommunale Institution. Zu einer Zeit allerdings, da solche Agitation noch nicht mit der Ausweisung bedroht schien. Um die Neujahrszeit legen Mistbauer und Kanalräumer nach wie vor keinen besonderen Wert darauf, ihre amtlichen Qualitäten herauszukehren. Das Neujahrsgeld wird geheischt gegeben und in Empfang genommen, ohne daß es jemandem einfallen würde, zu untersuchen, ob nicht am Ende eine Uebertretung des Paragraphen 104 des Strafgesetzes vorliegt, ob nicht von einer „Geschenkannahme in Amtssachen“ gesprochen werden kann.

Mit demselben Recht mit dem man eine Amtsehrenbeleidigung dort erblickt, wo durch Wort oder Tat der Ehre desselben städtischen Organs nahegetreten wird. Genau genommen gehört die ganze Amtsehrenbeleidigung ausschließlich in das Gebiet des Autoritätsstaates. Heutzutage aber da man mit dieser Autorität oft genug ziemlich respektlos umspringt, weit respektloser sogar als es angezeigt ist, wäre es gar kein Unglück, wenn man sich entschlösse, auf die strafrechtlichen Privilegien der öffentlichen Angestellten zu verzichten. Der Abbau der Amtsehrenbeleidigung wäre weit weniger schmerzhaft als der Beamtenabbau selbst.

Die Demolierung der englischen Slums

Die britische Regierung will pro Jahr 50.000 Häuser durch neue ersetzen.

Neue Freie Presse am 11. März 1934

Bei Eröffnung der Wohnungsausstellung in Manchester gab der Gesundheitsminister Sir Hilton Young einen Überblick über das Programm der Regierung, betreffend die Niederreißung der Slums und die Errichtung neuer Häuser an Stelle der unhygienisch gewordenen.

Die Arbeiten, die mit größter Beschleunigung durchgeführt werden sollen und bereits begonnen haben, verteilen sich auf fünf Jahre. Alljährlich werden etwa 50.000 Häuser demoliert und durch neue ersetzt. Das bedeutet, daß für die Lösung des Slumproblems nunmehr in einem Jahre mehr geleistet werden wird , als in den letzten sechzig Jahren geschah.

Daneben wird aber auch eine Reihe anderer wichtiger Aufgaben in Angriff genommen, welche die Wohnungsschwierigkeiten, wie Überfüllung, unhygienische Bedingungen, außerhalb der Slumdistrikte zu beseitigen haben werden.

Ist der BH ein Luxusartikel?

Eine Wiener Gericht hatte eine heikle Rechtsfrage zu klären.

Neue Freie Presse am 10. März 1924

In einer heute beim Strafbezirksgerichte I stattgehabten Verhandlung wurde unter großer Heiterkeit des Auditoriums lebhaft die Frage erörtert, ob Busenhalter, die von Damen als Miederersatz verwendet werden, als Bedarfs- oder Luxusartikel anzusehen sind.

Die Inhaberin eines Miedersalons Frau Fanny Bloch war nämlich vor dem Landgerichtsrat Dr. Arie wegen Preistreiberei angeklagt, weil sie kürzlich für einen Busenhalter den offenbar übermäßigen Preis von 150.000 Kronen verlangt hatte. Die Preisprüfungsstelle hatte unter Berücksichtigung der von Frau Bloch aufgestellten Kalkulation und unter Zubilligung eines Regiezuschlages von 20 Prozent einen Preis von 120.000 Kronen als angemessen erklärt.

Noch vor der Verlesung der Anzeige beantragte der Verteidiger der Angeklagten Dr. Weil seine Klientin freizusprechen, da ein Busenhalter, der zur Stützung und Verschönerung der weiblichen Büste diene, als Luxusartikel anzusehen sei, auf den die Preistreibereiverordnung keine Anwendung finde. Der Richter lehnte diesen Antrag ab und beschloß, in die Verhandlung einzugehen.

Die Angeklagte suchte darzulegen, daß der Preis ein angemessener sei, zumal die Regie in ihrem Geschäft weit höher sei als 20 Prozent. Der Verteidiger zog unter großer Heiterkeit des Auditoriums aus seiner Aktentasche einen Busenhalter hervor und bemerkte, daß er für diesen, der mit dem von Frau Bloch verkauften identisch sei, in einem anderen geschäft 300.000 Kronen bezahlt habe. Der Verteidiger beantragte, daß der Richter beide Busenhalter messen möge, um sich zu überzeugen, daß beide die gleiche Weite haben.

Richter: Ich bin nicht Sachverständiger in Busenhaltern und müßte erst einen Sachverständigen aus diesem Fache vorladen. Der Verteidiger erklärte, daß es eines Sachverständigen nicht bedürfe, da er nach wie vor der Ansicht sei, daß Busenhalter ein Luxus seien. Richter zum Verteidiger: Sie scheinen, Herr Doktor, ledig zu sein, denn sonst würden Sie nicht mit solchem Eifer die Ansicht vertreten, daß Busenhalter Luxus sind. Verteidiger: Ich bin zwar ledig, habe aber eine Schwester.

Der Richter sprach schließlich die Angeklagte frei mit der Begründung, daß Busenhalter zwar als Bedarfsgegenstand anzusehen sind, daß aber ein offenbar übermäßiger Preis von der Angeklagten nicht verlangt worden sei. 

Fallschirmabsprung eines Fliegers auf eine Eiche

Zu einem aufregenden Zwischenfall kam es bei einem Probeflug.

Neue Freie Presse am 9. März 1934

Der „Times“ - „Neue Freie Presse“-Dienst meldet aus Southampton: Zu einem aufregenden Zwischenfall kam es kürzlich bei einem Probeflug. Zwei Aviatiker befanden sich auf einem Flug von der Hauptfliegerschule in Witterung zu dem Flughafen in Old Sarum. Im Süden von Hampshire verirrte sich das Flugzeug im Nebel, und der Benzinvorrat ging rasch zu Ende. Der Pilot war der bekannte Fliegeroffizier Edwards, der sich in Begleitung des Pilotsergeanten Jobbins befand. Als eine Notlandung unvermeidlich wurde, sprang Jobbins aus beträchtlicher Höhe mit einem Fallschirm ab, um die Maschine zu entlasten.

Der Fallschirm wurde seitwärts abgetrieben und verfing sich im Wipfel einer hohen Eiche in der Umgebung von Braithfield. Der Flieger war von der Apparatur des Fallschirms derart umschnürt, daß er sich in Gefahr befand, erdrosselt zu werden. Auf seine Hilferufe eilten ein Bauer und ein Postbote herbei, die auf den Baum kletterten und dem Flieger ein Seil zuwarfen, mit dessen Hilfe er sich mühsam aus der Umklammerung herausarbeitete. Fast eine Stunde dauerte dann noch die Bergung des Fallschirms. Edwards hatte unterdessen eine Notlandung auf einer Wiese bei Totton ausgeführt.

Chirurgen als Duellanten

Zwei namhafte Chirurgen, denen man angesichts ihres Alters eine derartige jugendliche Heißblütigkeit kaum zugetraut hätte, haben im Bois de Bologne ein Säbelduell ausgefochten.

Neue Freie Presse am 8. März 1924


Aus Paris wird uns geschrieben: Eine Aerzteaffäre, wie sie sich in Frankreich noch niemals ereignet hatte, hält jetzt Paris in Atem. Zwei namhafte Chirurgen, denen man mit Rücksicht darauf, daß sie beide bereits das 50. Lebensjahr beträchtlich überschritten haben, eine derartige jugendliche Heißblütigkeit kaum zugetraut hätte, haben im Bois de Bologne ein Säbelduell ausgefochten, bei dem der eine der beiden Gegner einen tüchtigen Denkzettel erhielt.

Unmittelbar nachdem sich die Nachricht von diesem für die Sorbonne sehr peinlichen Zwischenfall verbreitet hatte, glaubte man zunächst, daß den beiden Herren gesetzten Alters ein unzeitgemäßer Johannistrieb einen Schabernack gespielt habe und daß vielleicht irgendeine Künstlerin von einem Baudevilletheater die Ursache dieses kriegerischen Zusammenstoßes sei. Bald aber hat sich der tatsächliche Sachverhalt herausgestellt.


Professor Broca, dies ist der eine Duellant, hatte als Leiter seiner Klinik eine neue ärztliche Diensteinteilung getroffen, die von seinen Aerzten als unkollegial und willkürlich betrachtet wurde. Professor Broca gilt als unerschüttlicher Phlegmatiker, den Polemiken nicht aus dem Gleichgewicht bringen können. Darum alterierte es ihn keineswegs, daß die Gesellschaft der Chirurgen eine Protestversammlung einberief, in der sein Vorgehen in ziemlich heftiger Weise kritisiert wurde. Broca hörte den Auseinandersetzungen, an denen sich nur ein einziger, Professor Cuneo, nicht beteiligte, mit ironischem Lächeln zu. Um so befremdlicher wirkte es, daß Broca nach Schluß der Versammlung seinem Kollegen Cuneo, der ihm zum Abschied die Hand reichen wollte, brüsk den Rücken kehrte. Die Folge war eine Duellforderung.


Die Zeugen dieses Zweikampfes waren ein Assistent, ein General und zwei Pariser Aerzte, die sich bemühten, die Gegner zu versöhnen. Aber Professor Cuneo lehnte diesen Vorschlag in entschiedener Form ab. An einem naßkalten Märzmorgen standen die beiden Chirurgen im Bois de Bologne mit dem Säbel in der Hand einander gegenüber. Broca führte den ersten Hieb, der von Cuneo pariert wurde. Mit großer Erbitterung ging nun Cuneo gegen seinen Gegner vor und verwundete ihn durch einen Säbelhieb, worauf das Duell für beendet erklärt wurde. Broca wird voraussichtlich mindestens eine Woche berufsunfähig sei.

Endlich endet der Streik der Bankbeamten

Der Streik bei den Banken hat am 18. Februar eingesetzt und jede Verzögerung des Friedensschlusses wäre für das ganze Wirtschaftsleben von großem Nachteil gewesen.

Neue Freie Presse am 7. März 1924

Man atmet erleichtert auf. Die Verhandlungen, die gestern geführt wurden, haben nach Mitternacht eine Einigung gebracht, so daß im Laufe des heutigen Tages die Ausarbeitung der abzuschließenden Kollektivverträge erfolgen kann. Man darf also damit rechnen, daß bereits morgen mit den Aufräumungsarbeiten in den Banken begonnen werden wird und daß Montag  der volle Betrieb seinen Anfang nimmt.

Der Streik bei den Banken hat am 18. Februar eingesetzt und jede Verzögerung des Friedensschlusses wäre für das ganze Wirtschaftsleben von großem Nachteile gewesen und hätte auch dazu führen müssen, das Ansehen Österreichs im Auslande zu schädigen. Sonntag wird die Wiener Messe eröffnet, und die Fremden, die herbeiströmen, würden sicherlich einen schlechten Eindruck empfangen haben, wenn in der für das Geschäftsleben so wichtigen Zeit die Schalter der Depositenkassen und der Hauptanstalten geschlossen gewesen wären. 

Es ist darum zu begrüßen, daß sich im letzten Augenblick noch die Vernunft durchrang, und daß ein Ausgleich zustande kam, bei dem es weder Sieger noch Besiegte gibt. Freilich, die Frage kann nicht zurückgedrängt werden, ob es wirklich notwendig war, zum äußersten Mittel des Kampfes zu greifen und ob die Angestellten ihre Forderungen nicht auch ohne die Lahmlegung des Bankbetriebes hätten unterstützen können und ob sie nicht hätten einsehen müssen, daß die Wünsche der Bankdirektor nichts so Unbilliges enthalten, daß ein Ausgleich möglich wäre. 

Es ist Wien nicht leicht gefallen, seine wirtschaftliche und finanzielle Stellung nach dem Zusammenbruche zu bewahren und es bedurfte besonderer Anstrengungen  und hervorragender Tüchtigkeit, um die drohenden Gefahren abzuwehren und um den Einfluß auf die finanzielle Entwicklung in Mitteleuropa ungeschmälert zu erhalten. Wochenlange Streiks sind aber gewiß nicht geeignet, auf die Geschäftsentfaltung günstig einzuwirken, und darum wäre es Pflicht gewesen, sich es zwei und dreimal zu überlegen, ehe man den letzten Schritt unternahm und die Banken soweit stillegte, als der Notdienst der Direktoren nicht die Auskunftsmittel zu schaffen vermochte.

Unverständlich war die Hartnäckigkeit, mit der sich die Vertreter der Angestellten solange gegen die Ausdehnung des Kassendienstes und damit gegen die Erfüllung eines dringenden Wunsches aller Wirtschaftskreise sträuben. Eine Einrichtung, die in allen anderen finanziellen Hauptplätzen eine Selbstverständlichkeit bildet, konnte doch gerade in Wien nicht unmöglich sein. Von  Montag ab werden nun die Kassastunden bei den Zentralen und Depositenkassen bis drei Uhr dauern und vom Herbst ab sollen dann die Schalter bis vier Uhr Nachmittags geöffnet sein. Wien wird in dieser Hinsicht nicht auf die Dauer wesentlich schlechter gestellt sein als irgendein anderer in Betracht kommender Handelsplatz oder irgendein anderes Fremdenverkehrszentrum. Das ist ein Fortschritt, aber es hätte dazu nicht eines fast dreiwöchigen Streiks bedürfen sollen. 

Ist das Trinkgeld noch zeitgemäß?

Das Handelsministerium schlägt vor, den bereits in sehr vielen Staaten Europas eingeführten zehnprozentigen Zuschlag zur Rechnung einzuführen.

Neue Freie Presse am 6. März 1934

Das Handelsministerium hat dem Zentralverband der Hoteliers Österreichs Mitteilung über den Plan einer Reform des Trinkgeldwesens gemacht. Es handelt sich hierbei um den Vorschlag, an Stelle der bisher üblichen Form den bereits in sehr vielen Staaten Europas eingeführten zehnprozentigen Zuschlag zur Rechnung treten zu lassen.

In der Zuschrift an den Zentralverband gibt das Ministerium bekannt, daß es zunächst die Absicht der beteiligten Kreise darüber kennenlernen wolle, ob die Anregung für durchführbar erachtet wird, die Regelung der Trinkgeldfrage in diesem Sinne durch eine Notverordnung einzuführen. Im bejahenden Fall müßte der Ablösung des Trinkgeldes Zwangscharakter zuerkannt werden.

Der Zentralverband hat sich in dieser Angelegenheit an seine Landesverbände um Stellungnahme gewandt, wirft aber jetzt schon die Frage auf, ob die Trinkgeldablösung den Wünschen aller Gäste entspricht. In den österreichischen Hotelierkreisen ist man der Meinung, daß der Diensteifer des Personals durch die Trinkgeldablöse nachteilig beeinflußt wird. Es wird daher vielfach der Gegenvorschlag gemacht, daß es dem Gast anheimgestellt werde, Trinkgeldablöse zu verlangen oder nach wie vor Trinkgeld nach eigenem Ermessen zu bezahlen.

Der Prozess gegen Hitler wächst sich zur Propaganda aus

Die Angeklagten im Münchner Hochverratsprozess verteidigen sich nicht, sondern halten Propagandareden.

Neue Freie Presse am 5. März 1924

Die Stimmung beim Hochverratsprozeß in München, einschließlich der Anklagevertretung, und beim Publikum ist den Angeklagten von vornherein so günstig, daß sie in keinem Augenblick als Angeklagte, sondern zumeist als Ankläger erscheinen. Sie werden vom Gericht stets mit ihren Titeln angesprochen: “Exzellenz”, “Herr Oberlandesgerichtsrat”, “Herr Leutnant”; nur Adolf Hitler ist mangels eines Titels schlechthin “Herr Hitler”.

Die beiden Staatsanwälte und die Angeklagten versichern sich gegenseitig ihrer Wertschätzung; man spricht respektvoll von “Seiner Majestät dem König” und respektlos von der neuen Staatsform, und nur als Oberleutnant Brückner die Kokarde der Reichswehr, die Lossows Soldaten sich bei ihrer Inpflichtnahme durch Bayern abrissen, hartnäckig “Pleitegeier” nennt, macht der Vorsitzende Reithardt den sanften Einwurf: “Das dürfte doch wohl nicht der technische Ausdruck sein”. Die zahlreich anwesenden ausländischen Pressevertreter müssen einen sonderbaren Eindruck von der Staatsautorität bekommen.

Die Angeklagten sind für das Volksgericht allerdings insofern angenehme Angeklagte, als sie sich zur Tat bekennen. Sie rühmen sich ihres Hochverrates und beteuern, daß sie im Wiederholungsfalle genau so handeln würden. Trotzdem oder gerade deshalb zweifelt hier kein Mensch daran, daß zum wenigsten ein Teil der Angeklagten, Ludendorff voran, freigesprochen wird.

Die Angeklagten verteidigen sich nicht, sondern halten Propagandareden. Der ganze Hochverratsprozeß wächst sich zu einer Riesenpropaganda für Hitler aus, der sich darauf - das muß man ihm lassen - wie kein anderer versteht. Man mag der Ansicht sein, daß politische Agitation nicht der Zweck des Prozesses ist, aber man wird trotzdem die Aufklärung begrüßen, die er bringt. Denn es stellt sich heraus, daß die Mehrzahl dieser Verfassungsstürzer die Reichsverfassung, die sie stürzen wollen, nicht einmal kennt.

Es stellt sich weiters heraus, daß die Mehrzahl von ihnen außer einer vagen Vorstellung eines deutschen Befreiungskampfes unter nationaler Diktatur keinerlei realpolitische Einstellung hat, sondern sich in alledem blindlings auf Hitler verläßt, dessen Ressort das Politische ist. Der Personenkult, der um Hitler getrieben wird, gleicht vollkommen dem, der Wilhelm II. zum Verhängnis wurde. Damit im Zusammenhang macht sich bei den Angeklagten eine persönliche Empfindlichkeit bemerkbar, die angesichts des bisherigen Schimpftones ihrer völkischen Presse besonders kurios anmutet. Zwei Zeichner, deren Skizzen die Porträtierten als karikaturistisch empfanden, wurden aus dem Gerichtssaal gewiesen; ein auswärtiger Berichterstatter, der recht überflüssigerweise von Hitlers “etwas vertragenem” Rock geschrieben hatte, erhielt einen anonymen Drohbrief.

Amerikanische Gangster haben einen neuen Erpressungstrick

Hunderaub statt Menschenraub als neue verbrecherische Einnahmequelle.

Neue Freie Presse am 4. März 1934

Unermüdlich in der Anwendung von Erpressungstricks haben amerikanische Gangster eine neue Einnahmequelle entdeckt. Der Menschenraub ist ein bißchen umständlich und zuweilen auch für die Räuber nicht ganz ungefährlich. Aber wie wäre es mit dem Hunderaub?

Wenn einer reichen Amerikanerin ihr vergöttertes Schoßhündchen geraubt wird, so ist sie gern bereit, für ihren Liebling ein großes Lösegeld zu bezahlen. Das neueste Opfer der Banditen ist ein Hund, den ganz Amerika aus den Filmwochenschauen kennt: Es ist nämlich “Kid Boots Ace”, ein Terrier, der bei zahlreichen Hundeschönheitskonkurrenzen preisgekrönt worden ist. Der Eigentümer des Hundes, Mr. Louis Rudginsky in Boston, wurde durch einen interurban Telefonanruf verständigt, daß er auf einer Landstraße in einer bestimmten Entfernung von Boston gegen ein Lösegeld von 500 Dollar seinen Hund in Empfang nehmen könne.

Mr. Rudginsky verständigte die Polizei, die einige Detektive zu der angegebenen Stelle entsandte. Aber von den Räubern, die offenbar Verdacht geschöpft hatten, fehlte jede Spur.

Die Türkei schafft das Kalifat ab

Alle Mitglieder der Familie des Kalifen sollen das Aufenthaltsrecht in der Türkei verlieren.

Neue Freie Presse am 3. März 1924

Aus Angora wird gemeldet: Die Majoritätspartei beriet heute einen von 50 Abgeordneten unterschriebenen Gesetzesentwurf, der die Aufhebung des Kalifats bezweckt. Der erste Paragraph, der die Abschaffung des Kalifats und die Absetzung des Kalifen ausspricht, wurde angenommen.

In den übrigen neun Artikeln des Gesetzesentwurfs wird bestimmt, daß alle Mitglieder der kaiserlichen Familie das Aufenthaltsrecht in der Türkei sowie ihre Eigenschaft als türkische Staatsangehörige verlieren. Sie sollen binnen zehn Tagen das Land verlassen und eine Pauschalentschädigung erhalten.

Es herrscht die Überzeugung vor, daß der ganze Gesetzesentwurf zur Annahme gelangen wird. Der Kalif und die Mitglieder der kaiserlichen Familie sollen auf einem von der Regierung zur Verfügung gestellten Dampfer nach Ägypten gebracht werden. 

Anmerkung: Mustafa Kemal Atatürk ließ anschließend in der türkischen Verfassung die strikte Trennung von Staat und Religion festschreiben. Der letzte Kalif Abdülmecid II. wurde außer Landes gebracht und ging mit seiner Familie ins Pariser Exil.

Der 10-Groschen-Tarif der Wiener Straßenbahn

Für diese billigen Fahrten wird nur die vordere Triebwagenplattform zur Verfügung gestellt.

Neue Freie Presse am 2. März 1934

Mit Rücksicht auf die verschiedene Beurteilung, die die versuchsweise Einführung des Kleinzonentarifs gelegentlich der Beratung in den städtischen Körperschaften seinerzeit erfahren hatte, hat der Direktor der Städtischen Straßenbahnen, Ing. Werner, in Gegenwart des Leiters der Verwaltungsgruppe für die städtischen Unternehmungen, Obersenatsrat Doktor Hornek, dem Bundeskommissär für Wien, Vizekanzler a. D. Bundesminister Schmitz, über den Kurzstreckentarif berichtet.

Die Versuche, die voraussichtlich im April einsetzen werden, erstrecken sich bekanntlich auf die Straßenbahnlinien 8, 18 G (ohne Stadtbahnstrecke), 118, 49, L und M (ab Ring bis Kasino), 52, 58 und 59. Der Kleinzonentarif ist nur an Werktagen vorgesehen. Der Fahrpreis für eine Kleinzone (rund einen Kilometer) wird durch Einwerfen eines 10-Groschen-Stückes in eine Geldbüchse beim Fahrer zu entrichten sein. Für diese billigen Fahrten wird nur die vordere Triebwagenplattform, allenfalls der anschließende, abgegrenzte Teil im Wageninnern, und auf der Linie 8 nach 8 Uhr einer der beiden Beiwagen zur Verfügung gestellt.

Auf allen vorgenannten Linien, mit Ausnahme der Linie 49, werden an den Werktagen nach 8 Uhr vom Schaffner Fahrscheine zu 30 Groschen ausgegeben, die zur direkten Fahrt auf einer Strecke von drei Kleinzonen berechtigen. Die jetzt geltenden Fahrausweise behalten während des Probebetriebes, der ungefähr zwei Monate dauern soll, ihre Gültigkeit.

Ludendorffs Hetzrede

Eine politische Hetzrede vor dem Volksgerichtshof als Reinwaschungsversuch.

Neue Freie Presse am 1. März 1924

General Ludendorff hat sich gestern ganz enthüllt. Er hatte vor den Münchner Volksrichtern seine Verteidigungsrede zu halten, aber die Art dieser Rede zeigte nicht das Bild des großen Soldaten aus den ersten Jahren des Weltkrieges, der so viele Siege errungen hat und dessen Name sich den Namen der ersten Generale der Geschichte anzureihen schien, sondern sie zeigte den politischen General der letzten Kriegszeit und der trüben Nachkriegsjahre, den Mann, der seine Verdienste um Deutschland leider nur allzu gründlich wettgemacht hat durch tausend Fehler und Sünden.

Die letzte Großtat war der Münchner Putsch. Der Sieger von Tannenberg, der damals mit Hindenburg zusammen Ostpreußen befreite, hat sich in Gefolgschaft eines verwirrten und verworrenen politischen Ideologen begeben, er schloß sich einer Bewegung an, deren klägliches Mißlingen jeder ruhige und vernünftige Mensch voraussehen mußte und die im besten Fall nur dazu führen konnte, den Bürgerkrieg zu entfesseln und blutiges Unheil über Deutschland zu bringen.

Wie aber benimmt sich Ludendorff nun? Er reagiert auf die Anschuldigung des Hochverrates, den er begangen hat, indem er dem Putsch seine Hilfe bot und sich zum Führer im Straßenkampfe erniedrigte, durch unwürdige Beschuldigungen, durch hetzerische Vorwürfe gegen den deutschen Katholizismus und gegen die deutschen Juden. Seine Rede soll eine Kampfrede sein, und das hohe Ziel dieses angeblich Nationalen ist scheinbar eine neue Zerklüftung von Deutschland durch die Verschärfung der Gegensätze zwischen den Konfessionen.

Dieser grandiose Politiker weiß nicht, wie viel gerade das Zentrum in den letzten Jahren der deutschen Geschichte bedeutet hat, in der es Bindeglied und Halt und Brücke zwischen Süd und Nord, zwischen Konservativ und Demokratisch, zwischen Tradition und neuer Entwicklung gewesen ist. Dieser angebliche Führer leistet sich weiter Pauschalverdächtigungen gegen die deutschen Juden und hat ganz vergessen, wie viele Zehntausende von ihnen als Soldaten im Osten und Westen für Deutschland geblutet haben, hat wohl nie gewußt, ein wie wesentlicher Teil deutscher Kulturarbeit in den Grenzländern gerade von den deutschen Juden stets geleistet worden ist und wie groß ihre Rolle beim Aufbau des Reiches bis zu den Tagen Rathenaus war.

Man kann sich kein traurigeres Ende dieses Feldherrn denken, keinen traurigeren Gegensatz, als den seiner strategischen Großtaten, an der Ostfront und seiner kläglichen Rolle bei der Bierkellerrevolution und in der gestrigen Rede im Prozeßsaale. Dieser Held der deutschen Nationalisten konnte sich gar nicht entnüchternder enthüllen. Sein gestriges Auftreten mutet an wie ein Begräbnis bei lebendigem Leib und man kann sich nicht vorstellen, daß es für ihn noch ein Wiederauferstehen geben könnte. Der Hochverräter der Münchner Herbstrevolte hat sich nicht als der Held, als den seine Anhänger ihn gepriesen haben, sondern als ein sehr kleiner Sterblicher erwiesen, der seinem Volk zum Verhängnis zu werden drohte.

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