Editionsphilologie

Mittelalterliche Texte modern herausgegeben

"Kudrun" ist eines der großen deutschen mittelalterlichen Heldenepen, die ausschließlich im Ambraser Heldenbuch überliefert sind.
"Kudrun" ist eines der großen deutschen mittelalterlichen Heldenepen, die ausschließlich im Ambraser Heldenbuch überliefert sind.De Gruyter/OENB
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Die Gesamttranskription des „Ambraser Heldenbuchs“ schließt nicht nur eine Forschungslücke, sondern setzt auch neue Maßstäbe für die Publikation mittelalterlicher Werke mithilfe moderner Technologien.

Das Vorhaben, das der Innsbrucker Literaturwissenschaftler Mario Klarer vor etwa fünf Jahren begann, nahm sich schon damals als eine Art Lebensprojekt aus: Das „Ambraser Heldenbuch“, die wichtigste Sammelhandschrift deutschsprachiger mittelalterlicher erzählender Literatur, sollte zur Gänze zeichengetreu transkribiert werden. Eine große Aufgabe, auch bei rein quantitativer Betrachtung: Die Prunkhandschrift besteht aus fast 250 beidseitig beschriebenen, übergroßen Pergamentblättern.

Unter qualitativem Aspekt ging es vor allem darum, das „helldenpuch“, das Kaiser MaximilianI. Anfang des 16. Jahrhunderts bei dem Bozner Zöllner Hans Ried beauftragt hatte, als Quelle für weitere Grundlagenforschung zu erschließen. Denn der Zollschreiber übertrug Werke, die etwa 300 Jahre zuvor verfasst worden waren, wie etwa Wernhers „Helmbrecht“, von der mittelhochdeutschen Sprache in die frühneuhochdeutsche Sprache seiner Zeit. „Die Transkription stellt mit hundertprozentiger Genauigkeit die Textbasis der einzelnen Werke zur Verfügung. Sie unterstützt damit neue kritische Editionen, die versuchen, die ursprünglichen mittelhochdeutschen Texte zu rekonstruieren“, so Klarer. Dies ist wesentlich, da der Kodex 15 bedeutende Werke der deutschen Literatur enthält, die ausschließlich in dieser Handschrift überliefert sind, darunter Hartmanns „Erec“ oder Ulrich von Liechtensteins „Frauenbuch“. Die zeichengetreue Gesamttranskription konnte durch eine ÖAW-Projektförderung realisiert werden.

Zwei Arten der Transkription

Die im Verlag de Gruyter erschienene Gesamtausgabe des Werks umfasst elf Bände und ist auf der Homepage des Verlags offen (Open Access) zugänglich. Sie stellt den Nutzerinnen und Nutzern zwei verschiedene Transkriptionen zur Verfügung, die, zusammen mit dem jeweiligen Manuskriptausschnitt, immer auf einer Doppelseite angeordnet sind. Links ist jeweils eine halbe Spalte der teilweise buchmalerisch verzierten Handschrift Hans Rieds platziert. Rechts gegenübergestellt werden sowohl eine allografische (zeichengetreue) Transkription, die alle Buchstabenvarianten wiedergibt, als auch eine diplomatische (vereinfachte) Transkription. Sie vereinheitlicht zum Beispiel die fünf unterschiedlichen s-Varianten und ergänzt Umbrüche von Versen und Strophen.

Tagging als technische Lösung

So plausibel all dies erscheint, so herausfordernd ist es technisch umzusetzen – zumindest wenn sie das Ziel haben, ein durchgängiges System zu schaffen, in dem alle durch das Original vorgegebenen Hürden vorab berücksichtigt sind: unregelmäßige Zeilenabstände, gewelltes Pergament, unterschiedliche Verzierungen oder eigenwillige Interpunktionszeichen. Durch Anbringen von etwa zwei Dutzend unterschiedlichen Tags (Markierungen) innerhalb eines pixelgenauen Koordinatensystems ließ sich das Problem lösen. „Wir haben keine einzige Zeile händisch platziert“, bringt Mario Klarer die Vorgangsweise auf den Punkt. Der letzte Knopfdruck des Computers brachte eine Publikation von über 6000Druckseiten auf den Bildschirm, die technisch einwandfrei und doch mit akribischer Detailtreue erzeugt wurde.

In Zahlen

25 Werke mittelhochdeutscher Literatur umfasst das „Ambraser Heldenbuch“. 15 davon sind ausschließlich in dieser Sammelhandschrift überliefert, darunter Hartmann von Aues „Erec“.

3000 Manuskriptscans
sind in der Ausgabe der Transkription gegenübergestellt.

500.000Wörter wurden für die 6000-seitige Gesamtedition transkribiert und in zwei verschiedenen Versionen wiedergegeben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2022)

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