Geologie

Der Anfang vom Ende: Wie das Wasser im Steppensee schwand

Der Neusiedler See – hier die Lange Lacke – ist für seine einzigartige Fauna und Flora bekannt.
Der Neusiedler See – hier die Lange Lacke – ist für seine einzigartige Fauna und Flora bekannt. Presse Seidler
  • Drucken

Neben dem Klimawandel seien weitere „Sünden der Vergangenheit“ schuld an der dramatischen Situation rund um den vom Austrocknen bedrohten Neusiedler See, sagt Erich Draganits von der Uni Wien. In einem Buchbeitrag räumt er mit Mythen rund um das Gewässer auf.

Der Neusiedler See ist ein ikonisches Beispiel für die Auswirkungen des Klimawandels“, sagt Erich Draganits. „Gleichwohl ist die jetzige besorgniserregende Situation auch Ergebnis früherer menschlicher Eingriffe.“ Draganits ist Geologe an der Uni Wien und befasst sich mit der Entwicklungsgeschichte des größten abflusslosen Gewässers Mitteleuropas, das vielleicht bald – wie manche befürchten – keines mehr ist.

Der niedrige Wasserstand nährt die Angst vor einem Austrocknen sowie vor einem Ende des Erholungs- und Naturschutzgebiets. Die Idee einer künstlichen Zuleitung findet Fürsprecher wie Gegner und wird derzeit politisch diskutiert. „Früher“, so weiß Draganits, „hat man sogar aktiv versucht, den See trockenzulegen, um Ackerfläche und Anbaugebiete zu gewinnen. Die Idee, ihn touristisch zu nutzen, und das Konzept, die Natur erhalten zu wollen, kamen ja erst im vergangenen Jahrhundert auf.“

Muscheln verraten das Alter

In einem aktuellen Sammelbandbeitrag (In: „Lake Neusiedl Area“; Draganits et al.; Springer-Verlag) zeichnet der Forscher nach, wie sich die Wassersituation im gesamten Seewinkel im Lauf der Geschichte verändert und welche Rolle der Mensch dabei gespielt hat. „Eines dürfte jedenfalls nicht stimmen“, schiebt Draganits ein Narrativ beiseite: „Der See ist mit ziemlicher Sicherheit nicht schon mehr als 100 Mal völlig trocken gewesen.“ Einige solcher Ereignisse, zuletzt von 1865 bis 1870, seien wissenschaftlich belegt. „Davon abgesehen existiert der See wahrscheinlich seit rund 12.000 Jahren, eher sogar etwas länger. Darauf weisen radiometrische Untersuchungen eines Muschelfundes hin.“ Um zu belegen, dass das Einzugsgebiet des Sees einst viel größer und die Wasserversorgung gesicherter war als heute, brauchen die Forscher gar nicht so weit in die Vergangenheit blicken. „Erst seit Ende des 19. Jahrhunderts ist die Wulka der einzige nennenswerte natürliche Zufluss“, sagt Draganits. „Davor hatte das weitläufige Sumpfgebiet im Südosten, der Hansag, über Jahrtausende hinweg eine Verbindung zum See, und bei Hochwasser auch die Flüsse Raab, Rabnitz und Ivka.“ Überschwemmungen und Niedrigwasserstände wechselten einander ab, Form und Ausdehnung des Sees änderten sich ständig. Durch bauliche Maßnahmen seit der frühen Neuzeit sei dem See sukzessive das Wasser abgegraben worden.

„Der erste dokumentierte Eingriff erfolgte 1568, als eine adelige Landbesitzerin die Rabnitz kanalisierte.“ 1780 wurde die heute noch existierende Dammstraße zwischen Pamhagen und Esterháza fertiggestellt, die das Sumpfgebiet vom See bis auf einige Durchlässe abtrennte. In der Folge sei die Zahl der Durchlässe weiter verringert worden. 1873 schließlich wurde die Raabregulierungsgesellschaft gegründet. Ihr Ziel: die endgültige Trockenlegung. Zu diesem Zweck baute man den „Einserkanal“ als Entwässerungsweg und verband ihn 1910 mit dem See. Weitere Kanäle wurden, u. a. aufgrund ökologischer Bedenken, nicht mehr gebaut. „Der Neusiedler See und sein Chemismus waren immer schon geologischen und klimatischen, in jüngerer Geschichte auch menschenverursachten Änderungen, wie eben technischen Eingriffen und letztlich dem anthropogenen Klimawandel, unterworfen“, schließt Draganits, der in seinem Buchbeitrag auch bisherige Theorien über die Entstehung der Lacken im Seewinkel infrage stellt. Es handle sich, so der Geologe, um einen Thermokarstsee, der sich am Ende der jüngsten Eiszeit durch Auftauen des Permafrosts gebildet hat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2022)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.