Unterwegs

Cancel Culture auf Russisch

Wie das Regime mit unbequemen Künstlern umgeht.

Polina Osetinskaya war fünf, als sie zum ersten Mal am Klavier saß. Sie war sechs, als sie ihr erstes Konzert gab, sieben, als sie ans Konservatorium in Moskau kam, acht, als sie mit Orchestern auftrat. Polina Osetinskaya war das UdSSR-Wunderkind, zu dem die UdSSR und ihr Vater sie gemacht hatten. Er prügelte den Erfolg in das brav lächelnde Kind hinein, ließ es hungern, quälte es. Die Gewalt sahen viele, getan haben sie nichts. Das Wunderkind musste Wunder vollbringen. Egal, zu welchem Preis.

Osetinskaya ist heute 46 und immer noch Pianistin. Sie weiß, was Gewalt ist. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine sprach sie sich deutlich gegen den Krieg aus. Für solche Haltungen verbannt Russland auch seine Wunderkinder von der Bühne. Die Propagandisten im russischen Staatsfernsehen ereifern sich derweil lautstark über die „Cancel Culture alles Russischen im Westen“.

Indes sperren russische Behörden Regisseure ein, schließen Theater, nehmen Schauspielern ihren Beruf. Oder verbieten – wie nun Osetinskaya – ihre Auftritte. In der Sankt Petersburger Philharmonie spielt nun jemand anders Beethoven. Einer, der zum Staat loyal ist.
Die Stücke des Regisseurs Dmitri Krymow haben Moskauer Theater ebenfalls aus den Spielplänen genommen. Auch der 67-Jährige hatte sich gegen den Krieg ausgesprochen und war danach, wie geplant, in die USA aufgebrochen, wo er Tschechows „Kirschgarten“ inszenierte.

Der Tragikomödie gleich verkennen bis heute viele in Russland die Wirklichkeit, bis diese Wirklichkeit sie eines Tages einholen dürfte. Eine monströse Realität, die sich nicht canceln lässt.

inna.hartwich@google.com

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