Unterricht

Was sollen Schüler heute wirklich lernen?

Am Montag startet für die Schülerinnen und Schüler in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland das neue Schuljahr.
Am Montag startet für die Schülerinnen und Schüler in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland das neue Schuljahr.Getty Images/Maskot
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Die Frage nach dem richtigen Unterricht ist so alt wie die Schule. Der Trend geht weg vom Auswendiglernen und hin zu neuen Fächern.

Es gibt Wörter, die stecken im Kopf. Über Jahrzehnte sitzen sie da fest, ohne Sinn. Aber nicht ohne Grund. Endoplasmatisches Retikulum ist so eines. Man musste den Begriff im Gymnasium lernen, als der Aufbau der Zelle am Lehrplan stand. Dabei ging es dann weniger um das Zusammenspiel der Einzelteile als vielmehr darum, sie benennen zu können. Fachbegriffe auswendig lernen: So war das früher, und so ist es auch heute noch oft.

Was sollen Schüler lernen? Diese Frage ist älter als das Schulsystem. Immer mehr Inhalte werden an die Schulen herangetragen. Erst diese Woche wurde die Forderung für ein Schulfach „Psychische Gesundheit“ laut. Viele fänden auch „Gesunde Ernährung“ oder „Umgang mit Geld“ am Stundenplan wichtig.

Besonders laut war der Ruf nach „Digitaler Grundbildung“. Die hat es nun tatsächlich auf den Stundenplan für alle Zehn- bis 13-Jährigen geschafft. Kein falscher Schritt, wenn es gut gemacht wird und für die Schüler das kritische Hinterfragen ebenso Alltag wird wie die tägliche Nutzung. Dass das Gymnasium ein Ort sein soll, in dem es um Wissen und nicht um praktische Anwendung geht, ist ohnehin Humbug. Siehe Handarbeiten und Werken. Ist es wichtiger, ein Gedicht interpretieren zu können – oder einen Gehaltszettel zu verstehen?

Ein jedes Ding hat seine Zeit, wie Shakespeare sagte. Und doch suchen wir immer (auch) nach dem, was Bestand hat. Dazu kann man in den einzelnen Fächern vieles finden – wenn es denn so unterrichtet wird, dass die Schüler verstehen, was sie da lernen. Den Konsens für mehr Verständnis gibt es seit Langem, er schafft es nur leider nicht immer in die Klassenzimmer. „Es steht halt im Lehrplan“, seufzen manche Lehrer, wenn sie erklären, warum sie Dinge abprüfen, die nicht einmal sie selbst interessieren.

Abkehr vom Detailwissen

Tatsächlich steht in den neuen Lehrplänen für die Sechs- bis 14-Jährigen, die sich gerade in parlamentarischer Begutachtung befinden, gar nicht mehr so viel. Pro Fach und Jahrgang handelt es sich oft nicht einmal um eine Seite. Denn während Lehrpläne früher ganz ihrem Wortsinn entsprechend all das festhielten, was von den Lehrern gelehrt werden sollte, liegt der Fokus heute am Lernen, auf dem, was bleiben soll.

„Bisher war das oft nicht viel, was wirklich gewusst und verstanden wurde. Das ist die ernüchternde Erfahrung“, sagt Manfred Prenzel. Der oberste Hüter über die Lehrerausbildung an der Universität Wien sieht es pragmatisch: „Die Schule muss gut überlegen, was sie von dem über Jahrtausende gewachsenen Weltwissen weitergibt.“ Und das Wissen wächst weiter. Es wird aber auch einfacher zugänglich. Fakten lassen sich ergoogeln.

Und so geht es beim Lernen über die Fotosynthese nicht mehr nur darum, Formeln auswendig zu lernen, sondern darum, den Prozess zu verstehen und die Bedeutung für das Klima einordnen zu können. Ähnlich ist es bei der Schlacht bei Issos. Dank der Eselsbrücke (drei, drei, drei) wissen viele, dass die Keilerei 333 v. Christus stattgefunden hat, doch die interessante Frage, wer daran beteiligt war und warum wir heute eigentlich davon wissen, die können nach der Schulkarriere wohl nur noch wenige beantworten.

„Deshalb rückt heute das isolierte Detailwissen eher in den Hintergrund“, sagt Prenzel. Gut finden das freilich nicht alle. Die Fachwissenschaftler in den einzelnen Disziplinen klagen über Unwissen. In Deutsch wird kontrovers über die Notwendigkeit fehlerfreier Texte diskutiert. In Mathematik sorgt der Einsatz des Taschenrechners für Diskussionen. Was muss man „zu Fuß“ rechnen können? Die Grundrechenarten? Oder auch die erste Ableitung?

Die Antwort darauf wird man nur bedingt im Lehrplan finden. Er ist nur der Rahmen. Das, was in den Schulen wirklich unterrichtet wird, findet sich oft im Schulbuch – dem viel zitierten „heimlichen Lehrplan“. Es führt oft ein Eigenleben – nämlich dann, wenn die Lehrer sich nicht entscheiden wollen. Nicht alles, was in den Büchern steht, muss besprochen oder gelernt werden. Es wäre Aufgabe der Lehrer, das Wesentliche auszuwählen. Die Freiheit haben sie. Aber nicht alle nützen sie.

Das althergebrachte Fächersystem

Mindestens so entscheidend wie die Frage, was in den Fächern unterrichtet werden soll, ist die Frage, welche Fächer es in der Schule überhaupt gibt. Darüber würde selbst Bildungsminister Martin Polaschek gern eine offene gesellschaftliche Debatte führen, wie er im Interview mit der „Presse“ sagte.

Der Fächerkanon ist bisher recht starr gewesen. Deutsch, Mathematik, Englisch dazu noch altbekannte Nebenfächer wie Biologie, Physik, Geschichte usw. Während die Welt immer vernetzter wird, wird das Wissen in der Schule weiter fein säuberlich in diese Fächer sortiert. Das funktioniert aber nicht immer. Augenscheinlich ist das beim Thema „sehen“. Die Optik und das Auge gehören als Wissensschatz zusammen, als Schulstoff aber zu Physik oder Biologie.

Das macht die Notwendigkeit von fächerübergreifendem Arbeiten deutlich. Im Bildungsvorzeigeland Finnland hat man das bereits vor Jahren erkannt und neben den traditionellen Fächern das „phänomenbasierte Lernen“ eingeführt. Themen wie Klimawandel, die Europäische Union, oder Flüchtlingsbewegungen werden interdisziplinär unterrichtet. Da arbeiten Geschichte, Geografie, Mathematik oder Kunstlehrer gemeinsam an einem Thema. In einer zunehmend komplexen Welt geht es eben mehr und mehr darum, Zusammenhänge zu erkennen. So ähnlich steht das auch in den neuen Lehrplänen. Nun muss das aber vom Papier noch in den Unterricht kommen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.09.2022)

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