Krieg in der Ukraine

Militärexperte sieht ukrainische Offensive als "großen Erfolg"

Die Stadt Isjum steht wieder unter ukrainischer Kontrolle.
Die Stadt Isjum steht wieder unter ukrainischer Kontrolle.APA/AFP/JUAN BARRETO
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Bei den Russen sei teilweise Chaos und Panik ausgebrochen, attestiert Oberst Markus Reisner. Für die Ukraine sei es jedenfalls sehr wichtig gewesen, dem Westen zu zeigen, dass sie militärisch handlungsfähig sei.

Die Offensive der ukrainischen Streitkräfte im Nordosten und Süden ist nicht nur militärisch, sondern auch strategisch ein großer Erfolg für die Ukraine. Zu diesem Schluss kommt Oberst Markus Reisner, Leiter der Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie, im Gespräch mit der Austria Presse Agentur am Montag. Der Durchbruch im Nordosten in der Region Charkiw sei beeindruckend, ob er auch ein Wendepunkt in diesem Krieg sei, könne man aber noch nicht abschließend sagen.

Für die Ukraine sei es jedenfalls sehr wichtig gewesen, dem Westen zu zeigen, dass sie militärisch handlungsfähig sei. Damit werde der Westen motiviert, weiter Waffen zu liefern. Denn davon ist die Ukraine nach wie vor abhängig. Die Gegenoffensive wurde laut Reisner mit einer Masse von westlichen Waffen und Fahrzeugen bewerkstelligt. Auch die Unterstützung im Bereich der Aufklärung, vor allem aus den USA, dürfte entscheidend gewesen sein, wie aus amerikanischen Berichten hervorgehe.

Chaos und Panik bei den Russen

Demnach haben hochrangige ukrainische Beamte im Sommer den Informationsaustausch mit ihren amerikanischen Kollegen verstärkt, als sie begannen, die Gegenoffensive zu planen. Die Vereinigten Staaten hätten bessere und relevantere Informationen über russische Schwächen geliefert. Die USA haben während des gesamten Krieges der Ukraine Informationen über Kommandoposten, Munitionsdepots und andere wichtige Knotenpunkte der russischen Militärlinien zur Verfügung gestellt. Solche Echtzeit-Informationen sollen es den Ukrainern ermöglicht haben, die russischen Streitkräfte gezielt anzugreifen und im Nordosten den Durchbruch zu schaffen. Die Gewinne im Nordosten, einschließlich der Rückeroberung von Isjum, einem wichtigen Eisenbahnknotenpunkt, seien die wichtigsten Fortschritte, die die Ukraine bisher gemacht habe.

Laut Reisner ist bei den Russen Chaos und Panik entstanden. Das sehe man daran, dass sie schwere Waffen zurückgelassen haben. Die Ukrainer seien mit kleinen mobilen Einheiten in die Ortschaften gefahren und haben die ukrainische Fahne gehisst. Bei den Russen sei so der Eindruck entstanden, dass sie eingekesselt sind und sie seien davon gelaufen. In der Militärgeschichte gebe es immer wieder solche Momente, erklärt Reisner die Lage mit einem englischen Zitat: "If you don't break the momentum, the momentum will break you" ("Wenn du das Momentum nicht brichst, wird das Momentum dich brechen"). "Die Ukrainer haben sich für die Offensive die schwächste Stelle ausgesucht und haben nicht die Eliteeinheiten, sondern die zwangsverpflichteten Einheiten aus dem Donbass angegriffen."

Im Süden nahe Cherson ist die Gegenoffensive nicht so erfolgreich. Hier hätten die Russen ein gutes Lagebild über die Zusammenziehung der Ukrainer gehabt und hätten es geschafft, ihre Kräfte (darunter vor allem Artillerie) am Ostufer des Dnepr zusammenzuziehen. Von dort aus können sie auch das Westufer beschießen. Die Ukrainer haben schon vor Wochen eine Gegenoffensive in diesem Bereich angekündigt, seien von den Russen aber immer wieder massiv mit Artillerie beschossen worden und haben in dem offenen, deckungsarmen Gelände schwere Verluste erlitten.

Raum konsolidieren

Reisner geht davon aus, dass die Ukrainer als Nächstes versuchen werden, den zurückgewonnen Raum zu konsolidieren. Die Russen wiederum werden vermutlich verstärkt wichtige Infrastruktur angreifen. Nach Angaben aus der Ukraine wurden in den letzten 24 Stunden bereits bis zu 50 Prozent der Elektrizitätsversorgung des Landes durch schwere russische Angriffe beschädigt.

Und die fehlende Luftabwehr bleibe daher noch immer die Achillesferse der Ukrainer. Russland hat bisher an die 3800 ballistische Raketen und Marschflugkörper auf die Ukraine abgefeuert, davon wurden nach Angaben der Ukrainer 200 abgeschossen. Trotz Fehltreffer haben somit viele ihre Ziele, wie am Sonntag in der Nacht, getroffen, gibt Reisner zu bedenken.

Im Winter könnte der Konflikt in der Kälte sprichwörtlich einfrieren. Russland werde aber sicher weiterhin versuchen, den Westen durch den parallel tobenden Wirtschaftskrieg zu schwächen, die Energieversorgung auszudünnen und damit die westlichen Bevölkerungen zu beeinflussen. Denn die Ukraine ist von Waffenlieferungen des Westens abhängig. Ohne diese könne die Ukraine den Konflikt nicht weiterführen.

(APA)

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