Zensur

Wie Russlands Staatsmedien über die ukrainischen Vorstöße in Charkiw berichten

Die Stimmung in den staatlich kontrollierten Medien ist merklich gedämpfter als üblich. Der regelmäßige Talkshow-Gast Boris Nadeschdin forderte im Sender NTV sogar umgehende Friedensgespräche.

Die Rückschläge der russischen Armee im Osten der Ukraine nach der blitzartigen Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte bringen nicht nur Moskau, sondern auch die staatlichen Medien Russlands in Erklärungsnot. Normalerweise versuchen die Kommentatoren und Talkshow-Gäste sich seit Beginn des Kriegs - der in Russland nur "militärischer Spezialeinsatz" genannt werden darf - regelrecht damit zu übertrumpfen, Solidarität mit Präsident Wladimir Putin zu zeigen.

Außerdem werden die Ukraine sowie deren Verbündete regelmäßig denunziert. Doch seit dem Wochenende ist die Stimmung merklich gedämpfter. Erklärungsansätze reichten von der angeblich zahlenmäßigen Überlegenheit der ukrainischen Truppen bis hin zur Untermauerung der vom Verteidigungsministerium ausgegebenen Erklärung für den offenbar fluchtartigen Abzug Tausender Soldaten aus der Region Charkiw: Es handle sich um eine "taktische Umgruppierung".

Beschuss von Kraftwerken als „Wendepunkt"

Die Talkshow-Gastgeberin Olga Skabejewa etwa versuchte, den Entwicklungen einen positiven Dreh zu geben. Sie eröffnete ihre tägliche Sendung am Montagmorgen mit dem Verweis auf die russische Bombardierung ukrainischer Kraftwerke und die daraus resultierenden großflächigen Stromausfälle im Osten der Ukraine. Das sei ein "Wendepunkt" in der Militäroperation. Mehrere Gäste zitierten dann noch einmal Putins Worte aus dem Juli, wonach Russland mit seiner Operation noch nicht mal ernsthaft begonnen habe. Sie zeigten sich überzeugt, dass das militärische Vorgehen nun verstärkt werde.

Der Nachrichtenkanal Rossija 24 wiederum interviewte Russlands Statthalter für Charkiw, Witali Gantschew. Dieser betonte, dass die Ukrainer den Russen um das Achtfache zahlenmäßig überlegen gewesen seien. Außerdem behauptete er - ohne Belege zu liefern -, die ukrainischen Truppen seien von westlichen Söldnern unterstützt worden.

Fokus auf den Donbass

Dimtri Kisseljow, einer der einflussreichsten russischen Journalisten, sagte zu Beginn seiner TV-Sendung am Sonntagabend, dass es "eine äußerst schwierige Woche an der Front" gewesen sei. Die Studiokulisse präsentierte allerdings deutlich das Motto des Verteidigungsministeriums: "Regruppierung" war im Hintergrund zu lesen.

Auch die russischen Zeitungen betteten ihre Berichterstattung über den Abzug der Soldaten überwiegend in die Devise des Verteidigungsministeriums ein. Die Tageszeitung "Iswestja" etwa fasste das Wochenende so zusammen, dass Russland 4000 ukrainische Soldaten getötet habe und das Militär sich nun neu gruppiere, um sich auf den Donbass zu konzentrieren.

Leichte Kritik

Die "Nesawissimaja Gaseta" merkte allerdings kritisch an, das Verteidigungsministerium habe sich über mehrere Tage hinweg nicht zu den "extrem verstörenden Nachrichten aus der Ukraine" geäußert. Das Blatt hielt auch fest, dass ukrainische Truppen auf Russlands Grenze vorrückten, während Russlands Militärführung derzeit Tausende Kilometer entfernt bei Großmanövern im Fernen Osten zugegen sei.

Deutliche Kritik an Putins Beratern wiederum äußerte der regelmäßige Talkshow-Gast Boris Nadeschdin im Sender NTV, der dem Staatskonzern Gazprom gehört. Sie hätten bei dem Präsidenten den falschen Eindruck aufkommen lassen, dass die Ukraine schnell aufgeben würde. Nadeschdin forderte umgehende Friedensgespräche, um den Konflikt zu beenden.

(APA/dpa)

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