Geschichte

Mit dem Geburtsort „SS Mütterheim“ leben

Der Verein „Lebensborn“ unterhielt 24 Entbindungsanstalten.
Der Verein „Lebensborn“ unterhielt 24 Entbindungsanstalten. (c) Archiv Lebensspuren e. V.
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Als Errungenschaft eines Forschungsprojekts zum NS-Entbindungsheim Wienerwald sprechen hier geborene Kinder – heute zwischen 77 und 84 Jahre alt – erstmals in Österreich über diesen Aspekt ihrer Biografie.

Was bedeutet es für die eigene Biografie, im Heim Wienerwald des nationalsozialistischen Vereins „Lebensborn“ auf die Welt gekommen zu sein? Für die einen ist es nicht mehr als ein Eintrag in der Geburtsurkunde, die anderen wiederum beschäftigt es ihr Leben lang. Seit 2020 erforscht ein Team um die Historikerin Barbara Stelzl-Marx von der Uni Graz, die das Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung leitet, und ihren Kollegen Lukas Schretter die Geschichte eines der größten Heime seiner Art. Im Zentrum stehen auch die Lebensläufe der Kinder.

Dazu haben sie sich in Archive begeben, Korrespondenzen geprüft und Einsicht in Standesamtsakten genommen sowie Interviews mit mehr als dreißig Betroffenen geführt. Erstes Ergebnis des von Nationalbank, Land Niederösterreich und Zukunftsfonds der Republik Österreich geförderten Projekts ist eine umfangreiche Datenbank. Nun steht die detaillierte Analyse der Erzählungen der im Projekt aufgespürten und erst daraufhin miteinander vernetzten „Lebensborn-Kinder“ an. Schon jetzt ist klar: „Es gibt eine weite Bandbreite, wie sie mit diesem Aspekt ihrer Biografie umgehen“, sagt Schretter. „Manche wussten es lange nicht, andere setzten sich aktiv damit auseinander.“

1188 Geburten nachgewiesen

Stelzl-Marx hat sich in ihrer Forschung unter anderem auf „Kinder des Krieges“ spezialisiert und in einem früheren Projekt die Geschichte der Nachkommen alliierter Soldaten untersucht. „Während bei vielen Besatzungskindern im Laufe der Zeit auch so etwas wie Stolz auf ihre Väter als Befreier zu Kriegsende entstand, schwingt bei den Lebensborn-Kindern oft die NS-Vergangenheit der Eltern mit“, resümiert sie.
Mindestens 1188 Geburten gab es in dem in der niederösterreichischen Gemeinde Pernitz gelegenen „SS Mütterheim Feichtenbach“. Gebären durfte hier nur, wer den „rassischen“ Kriterien der Nazis entsprach. Denn das Ziel des 1935 gegründeten Vereins „Lebensborn“ war die Erhöhung der Geburtenziffer „arischer“ Kinder. In den Entbindungsanstalten war auch anonymes Gebären für ledige Mütter sowie, in wenigen Fällen, die Adoption der Babys möglich. Der Tagesablauf im Heim Wienerwald war straff organisiert, die Mütter, ihr Verhalten und ihre Ernährung wurden streng überwacht. Alles drehte sich um das Kind „als Adel der Zukunft“.

Runder Tisch am Dienstag

Heute ist das Gebäude, das Anfang des 20. Jahrhunderts als Lungenheilanstalt von zwei jüdischen Ärzten errichtet, nach dem Zweiten Weltkrieg erst als Erholungsheim der Gewerkschaft und später als Hotel genutzt wurde, in Privatbesitz. Die Revitalisierung als Heilanstalt für Long-Covid-Patienten ist im Gespräch.
Bei einem runden Tisch im Haus der Geschichte im Museum Niederösterreich in St. Pölten am kommenden Dienstag, 20. September, um 18 Uhr, sprechen Lebensborn-Kinder, heute zwischen 77 und 84 Jahre alt, erstmals in Österreich über die Bedeutung ihres Geburtsortes in ihrer Biografie. Darüber hinaus gibt Schretter Einblicke in das Interviewprojekt.

Anmeldung: bik-graz@bik.ac.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.09.2022)

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