Rhythmische Gymnastik

Russland turnt in einer Parallelwelt

Dina Averina ist die dominierende Gymnastin der Gegenwart. Bei der WM schaut sie zu.
Dina Averina ist die dominierende Gymnastin der Gegenwart. Bei der WM schaut sie zu.Reuters / Mike Blake
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Was bedeutet es für eine Disziplin, wenn ihre Stars fehlen? Keine olympische Sportart wurde von Russen so geprägt wie die Rhythmische Gymnastik.

Eine solche Zeitenwende wurde ersehnt, aber nicht unter diesen Umständen. Zehn Mal in Folge ging allein der WM-Mehrkampftitel in der Rhythmischen Gymnastik nach Russland, auch wenn die entsprechende Fahne bei Dina Averinas vorläufig letzten von insgesamt 18 vergoldeten Triumphen im vergangenen Herbst nicht mehr gehisst wurde. In Sofia, so viel steht schon vor dem WM-Schlusstag fest, wird erstmals überhaupt in der Geschichte der Wettkämpfe seit 1963 keine russische Athletin (inklusive Sowjetunion) auf dem Podest vertreten sein. Denn nachdem im Zuge der Sanktionen wegen Staatsdopings zunächst alle nationalen Insignien verschwanden, taten es mit Russlands Einmarsch in der Ukraine auch die russischen Athletinnen. Der Internationale Turnverband (FIG) folgte damit der offiziellen IOC-Empfehlung und schloss russische und belarussische Athletinnen auf unbefristete Zeit von seinen Wettbewerben aus.

Das setzt also einerseits der extremen Dominanz ein Ende, keine andere olympische Sportart wird von einer Nation in diesem Ausmaß beherrscht. Rhythmische Gymnastik gleicht in Russland einem Nationalheiligtum, als einziges Land gibt es dort für die eleganten Bewegungen samt fünf Geräten (Seil, Reifen, Ball, Band, Keulen) zu Musik einen eigenständigen Verband (und ist nicht im Turnen angesiedelt). Dessen Präsidentin, Irina Viner-Usmanowa, hat als Trainerin nicht nur herausragende Athletinnen wie Margarita Mamun (einmal Olympia- und sieben Mal WM-Gold) geformt, sondern ihr stehen dank Ehemann und Oligarch Alischer Usmanow (geschätztes Vermögen rund 15 Milliarden Dollar; inzwischen mit Sanktionen belegt) auch schier unbegrenzte „Sponsormittel“ zur Verfügung. Das ließen sie und ihre Schützlinge die Konkurrenz in der Vergangenheit deutlich spüren, weshalb das russische Team nicht die höchsten Sympathiewerte genießt. „Es ist entspannter ohne sie“, berichtet Robert Labner, Generalsekretär des österreichischen Turnverbandes. „Was die Politik betrifft, gibt es keine Diskussion, dass der Ausschluss gerechtfertigt ist.“


Neue Maßstäbe. Ganz verschwunden von der Bildfläche sind die russischen Stars nicht. Dina Averina und ihre ebenfalls turnende Zwillingsschwester Arina lassen auf dem gemeinsamen Instagram-Account weiterhin an ihrer Welt teilhaben, in der sie etwa im März mit anderen Sportlern eine Propaganda-Veranstaltung Putins schmückten. Und die Averinas turnen auch bei Showevents und innerrussischen Wettkämpfen, die neue Maßstäbe setzen.

Denn um der russischen Vorherrschaft Grenzen zu setzen, sind in der Rhythmischen Gymnastik die Schwierigkeitslevels der Programme von der FIG nach oben limitiert. In Russland nun neuerdings nicht mehr, wie die Ergebnislisten zeigen. „Da sieht man, was die können. Das ist die absolute Weltspitze“, sagt Labner. Erneute Diskussionen über das Reglement scheinen für die Zukunft vorprogrammiert.

Zumal Russland im Gegensatz zu anderen Sportarten den Weltturnverband und damit die Gymnastik vor dem Internationalen Sportsgerichtshof gegen den Ausschluss geklagt hat. Wann die Entscheidung fallen wird, ist nicht absehbar, ein Ende des Krieges und damit der Sanktionen ebenso wenig. Die damit einhergehende Problematik allerdings schon. Mit der WM in Sofia hat die Qualifikation für Olympia 2024 begonnen. Chancen darauf haben gemäß FIG-Regulativ nur diejenigen, die zum Startzeitpunkt berechtigt waren. Soll Russland in Paris vertreten sein, bräuchte es also eine Änderung der Kriterien. Klar ist auch: An der russischen Dominanz wird sich so schnell nichts ändern. Das zeigen Jugendbewerbe, die vielfach ohne FIG-Patronanz und folglich mit der nächsten Generation russischer Stars stattfinden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2022)

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