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Interview

Brett Scott: Warum die Abschaffung des Bargelds unsere Freiheit gefährdet

Mit Brett Scott im „Presse“-Interview über die essenzielle Bedeutung von Bargeld für die Gesellschaft und die Gefahren der Digitalisierung des Zahlungsverkehrs.
Mit Brett Scott im „Presse“-Interview über die essenzielle Bedeutung von Bargeld für die Gesellschaft und die Gefahren der Digitalisierung des Zahlungsverkehrs.(c) Mirjam Reither
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Interview. Nicht erst seit der Coronakrise bezahlen immer mehr Menschen bargeldlos mit Karte oder App. Die Pandemie hat die Entwicklung deutlich beschleunigt. Die totale Digitalisierung des Geldes scheint unausweichlich zu sein. Eine Entwicklung in Richtung Bequemlichkeit im Zahlungsverkehr, die laut Brett Scott mehr Fluch als Segen ist. Ein Interview mit dem britischen Finanzexperten, Journalisten und Buchautor. 

Herr Scott, es sieht so aus, als würde Bargeld in unserem Wirtschaftssystem und im alltäglichen Leben quasi abgeschafft werden. Sehen Sie darin ein Problem?

Brett Scott: Ja, ein sehr großes sogar. Wenn wir Verbraucher nicht mehr die Möglichkeit der Wahl zwischen elektronischem Bezahlen und Cash haben, verlieren wir einen gewichtigen Teil unserer Freiheit und liefern uns einem System aus, das eine Reihe von Gefahren birgt.

Von welchem System und welchen Gefahren sprechen Sie?

Um das zu verstehen, lohnt sich ein Blick darauf, wer eigentlich die treibende Kraft hinter der versuchten Abschaffung des Bargelds ist, sprich wer davon wie profitiert. Denn das, was uns gerne als natürliche und alternativlose Entwicklung verkauft wird, ist in Wahrheit ein durchdachter Prozess, bei dem mächtige Interessen im Spiel sind. Nutznießer sind vor allem die großen IT-Unternehmen wie Amazon und Google und die Big Player der Finanzindustrie, die unter dem Banner des Fortschritts schon seit Längerem die bargeldlose Gesellschaft propagieren.
Big Tech und Big Finance rücken in dieser Causa immer stärker zusammen und bauen mit allgegenwärtigen digitalen Geräten zunehmend ihre Macht über uns aus – ganz eindeutig zum Nachteil unserer Freiheit und Unabhängigkeit.

Das böse System mit seinen mächtigen Interessen, das Menschen die Freiheit raubt? Klingt das nicht ein wenig nach Verschwörungstheorie?

Es wäre schön, wenn es nur eine Theorie wäre. Schauen wir uns diese Entwicklung doch genauer an. Fakt ist, dass der große Kampf unserer Zeit um das Eigentum an den digitalen Fußabdrücken geht, aus denen sich unser Leben zusammensetzt. Wenn Menschen digital bezahlen, hinterlassen sie deutliche Spuren. Es wird nachvollziehbar, wofür sie ihr Geld verwenden, was wiederum Rückschlüsse auf ihre Lebensführung, Interessen, Vorlieben etc. erlaubt.

Davon profitieren zunächst in erster Linie jene Unternehmen, welche die finanziellen Aktivitäten von Menschen verfolgen, also Finanzinstitute und Zahlungsdienstleister. Wenn man sich zum Beispiel vor Augen hält, dass Unternehmen wie beispielsweise PayPal Informationen mit rund 600 Organisationen austauschen – darunter Kartennetzwerke, Kreditbüros, Marketingfirmen, kommerzielle Partner oder Beratungsagenturen –, dann kann man sich ausmalen, welche Kreise unsere sensiblen Daten ziehen.
Man muss also kein Verschwörungstheoretiker sein, um festzustellen, dass die Digitalisierung des Zahlungsverkehrs die Interessen von mächtigen Wirtschaftsgrößen bedient, die unsere persönlichen Daten für ihre ökonomischen Zwecke verwenden.

»„Der große Kampf unserer Zeit geht um das Eigentum an den digitalen Fußabdrücken, aus denen sich Schritt für Schritt unser Leben zusammensetzt.“«

Brett Scott

Fürchten Sie, dass – wenn man einen Schritt weiter denkt – die Daten auch für politische Zwecke missbraucht werden können?

Das ist keine Furcht, sondern leider bereits gelebte Praxis. Dazu gibt es zahlreiche Beispiele aus dem täglichen Leben, die nicht auf verschwörerischen Gedanken basieren, sondern schlicht und einfach die Realität widerspiegeln. Dazu ein konkretes Beispiel.
Als sich in Hongkong die Proteste gegen das chinesische Regime formierten, wurden Demonstranten unter anderem damit identifiziert, dass sie ihre U-Bahn-Tickets auf dem Weg zu den Massenprotesten digital bezahlt hatten. Das wäre nicht passiert, wenn anonym mit Bargeld bezahlt worden wäre. Es darf sich jeder ausmalen, wie gerade totalitäre Regimes mit diesen digital ermittelten Informationen über Menschen umgehen.

Sie mögen Recht haben, was totalitäre Überwachungsstaaten betrifft. In westlich geprägten Demokratien gibt es aber strenge Vorschriften, die Unternehmen daran hindern, sensible Daten an Dritte weiterzugeben.

Ist das nicht etwas naiv? Es ist ja kein großes Geheimnis, dass wirtschaftliche und politische Interessen miteinander verquickt sind. Daten werden in unserer zunehmend durchdigitalisierten Welt gesammelt, analysiert und natürlich auch verkauft. Das kann sehr schnell politisch werden und ebenso rasch zulasten unserer persönlichen Freiheit gehen. Die konkrete Vermengung von Finanz und Politik im Zahlungsverkehr ist auch keineswegs eine neue, überraschende Entwicklung.

Ich denke gerade beispielhaft an das Jahr 2010 und den Streit zwischen Wikileaks mit PayPal, Mastercard und Visa. Der Online-Zahlungsdienst und die beiden Kreditkarten-Firmen hatten damals beschlossen, keine Zahlungen an die Enthüllungsplattform mehr zuzulassen – mit dem Verweis auf politische und juristische Inhalte. Schlussendlich war es eine Debatte zum Thema Meinungsfreiheit.

Im Gespräch mit dem britischen Finanzexperten und Buchautor Brett Scott.
Im Gespräch mit dem britischen Finanzexperten und Buchautor Brett Scott.(c) Mirjam Reither

Sie argumentieren mit dem ­Verlust an Datenhoheit und demokratiegefährdenden Folgen. Nach der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 haben aber technologiebasierte ­Finanz­unternehmen genau das Gegenteil propagiert, nämlich dass digitale Technologien das ­Finanzwesen demokratisieren werden.

Das stimmt. Die Fintech-Unternehmen haben sich damals als Revolutionäre gesehen und von Demokratisierung gesprochen. Die Wahrheit ist allerdings: Sie wollten das eingesessene System einfach nur zu ihrem Vorteil automatisieren. Wir Menschen wurden ermutigt, Bankgeschäfte nicht mehr in der Filiale zu tätigen, sondern online via Apps. Algorithmen wurden als Heilsbringer gepriesen, die künftig das „lästige“ Gespräch mit Bankbeamten ersetzen können – bis hin zur automatisierten Abwicklung eines Kreditvertrags. Das ergibt aus Fintech-Sicht natürlich Sinn. Offline-Bargeld lässt sich nur schwer in automatisierte Systeme integrieren.

De facto hat gerade der Bankensektor davon profitiert und seine Macht ausgebaut. Fintech-Unternehmen wurden aufgekauft, die Kosten des Bankenwesens reduziert und die Banken konnten in Teile der Gesellschaft vorstoßen, die ihnen zuvor nicht zugänglich waren. Dazu gab es das schöne Wort der finanziellen Inklusion.

Die Wahrheit ist: Menschen wurden in datenhungrige Systeme von profitorientierten Unternehmen geschleust, die wie gesagt vor allem den eigenen Vorteil im Auge haben. Die Automatisierung und Digitalisierung hilft somit vor allem Banken und profitorientierten Finanzinstituten, die aus guten eigennützigen Gründen einen regelrechten Krieg gegen das Bargeld vom Zaun gebrochen haben. Ich sehe da keine Demokratisierung, wie sie versprochen wurde.

Die bargeldlose Gesellschaft als Geschäftsmodell von Banken und Unternehmen?

So ist es – aber es wird uns ganz anders präsentiert. Uns wird das Bild verkauft, dass wir Verbraucher dieses bargeldlose Leben selbst vorantreiben, weil es angeblich so angenehm und praktisch sei, überall problemlos mit Bankomat- oder Kreditkarten bezahlen zu können. In Wahrheit ist es eine Entwicklung von oben nach unten, die von Institutionen vorangetrieben wird, die einfach einen Vorteil daraus beziehen, dass der Zahlungsverkehr digital vonstattengeht.
Die Zielsetzungen dieser Treiber in Form von Banken, Zahlungsabwicklern, Fintechs und Big Techs oder politischen Akteuren sind ganz klar: Datensammlung für kommerzielle Zwecke und zur Ausübung von Kontrolle sowie Profitgenerierung.

Mit Brett Scott im „Presse“-Interview über die essenzielle Bedeutung von Bargeld für die Gesellschaft und die Gefahren der Digitalisierung des Zahlungsverkehrs.
Mit Brett Scott im „Presse“-Interview über die essenzielle Bedeutung von Bargeld für die Gesellschaft und die Gefahren der Digitalisierung des Zahlungsverkehrs.(c) Mirjam Reither

Und dennoch ist es doch tatsächlich praktisch und bequem, wenn wir als Konsumenten allerorts nur mehr eine Karte benötigen, um unsere täglichen Einkäufe und Besorgungen zu erledigen, oder?

Es mag bequem sein, aber die Bequemlichkeit hat ihren Preis – und da spreche ich nicht von den Gebühren, die für jede digitale Transaktion eingehoben werden und am Ende auch von den Bürgern zu bezahlen sind. Der Preis ist wie angesprochen der Verlust der Datenhoheit und Freiheit. Ein konkretes Beispiel aus meinem Alltag.

Vor ein paar Tagen war ich in einem Londoner Pub. Ich wollte mir nur ein Bier kaufen, Bargeld wurde nicht akzeptiert. Letzteres passiert einem in London immer häufiger und in allen möglichen Geschäften. Also musste ich eine App herunterladen, die die Interaktion mit mehreren Megakonzernen erforderte. Ich sollte Google oder Facebook für die Identität, zwei Geschäftsbanken für das digitale Geld und Visa oder Mastercard als Mittel zur Übermittlung von Nachrichten an diese Banken verwenden. Um ein Bier zu konsumieren, musste ich akzeptieren, dass sich vier Unternehmen – bildlich gesprochen – zwischen mich und den Barbesitzer stellen. Das hat sich für mich eher „unbequem“ angefühlt, ehrlich gesagt.

Sie finden also, dass der Preis für den Komfort des bargeldlosen Bezahlens zu hoch ist?

Wenn der Preis der Weg in die Abhängigkeit von Unternehmen ist, die meine Interessen nicht vertreten – dann ja, natürlich, dieser Preis ist viel zu hoch. Lassen Sie mich ein anderes Beispiel anführen, die zugleich aufzeigt, dass wir hier eine grundsätzliche Debatte über Fluch oder Segen neuer Technologien führen. Nehmen wir das Automobil. Es wird uns als Möglichkeit verkauft, den Weg von A nach B schneller zurückzulegen. Das klingt wie ein großer persönlicher Vorteil, wenn man an einem Stadtrand wohnt und am anderen arbeitet. Zu Fuß zu gehen oder mit dem Fahrrad zu fahren ist keine gute Aussicht, wenn es etwa gerade regnet oder die Distanzen von A nach B zu groß sind. Öffentliche Verkehrsmittel sind vielleicht überfüllt und entsprechen nicht unserem Wunsch nach Autonomie. Da klingt es doch gut, ein Auto benutzen zu können.

Aber haben Sie sich schon die Frage gestellt, warum Ihr Wohnort und Ihr Büro an den beiden Enden der Stadt liegt? Ist es vielleicht denkbar, dass dahinter ein Wirtschaftssystem liegt, das uns Autos verkaufen möchte und dabei vorgaukelt, wir gewinnen damit Zeit und Freizeit? Wäre es nicht besser, wenn das System uns helfen würde, Arbeits- und Wohnplatz in der Nähe zu haben? Dann würden wir nämlich kein Auto benötigen.
Mit dem Finanzsystem verhält es sich ähnlich. Cloudmoney, also digitalisiertes Geld, wird uns als technologischer Fortschritt verkauft, der den Verbrauchern Bequemlichkeit und Zeitgewinn bringen soll. Aber das ist bestenfalls die halbe Wahrheit, wenn man hinter die Kulissen blickt.

»„Cloudmoney wird uns als technologischer Fortschritt verkauft, der Bequemlichkeit und Zeitgewinn bringen soll. Aber das ist bestenfalls die halbe Wahrheit.“«

Brett Scott

Müssen wir also technologiefeindlich sein, um nicht in die Fallen des Systems der Mächtigen zu tappen?

Nein, das müssen wir nicht. Aber Technologien sollten im Idealfall nicht dem permanenten Wachstum dienen, sondern den Menschen. Insofern gilt es, Technologien eingehend zu prüfen. Was ist ihr eigentlicher Zweck? Wem sie dienen, wem nicht? Wie sollen sie am besten zum Einsatz kommen? Ich selbst bin technologieaffin, aber ich plädiere für ein Miteinander. Im urbanen Raum, in dem ich mich von A nach B bewegen will, müssen sowohl Autos als auch öffentliche Verkehrsmittel, Fahrräder oder Fußgänger Platz haben. Jede Methode hat Vor- und Nachteile und niemand würde – hoffe ich – auf die Idee kommen, uns nur noch das Auto zu erlauben. Das würde sich auch niemand gefallen lassen.

Analog dazu sollen im Zahlungsverkehr digitale Währungen ebenso ihren Platz haben wie Bargeld. Bargeld ist sozusagen das Fahrrad des Zahlungsverkehrs, das Peer-to-Peer-Transaktionen ermöglicht, die örtlich begrenzt, widerstandsfähig und freiheitsstiftend sind. Beim digitalen Geld, das etwa bei internationalen Überweisungen natürlich seine Berechtigung hat, müssen wir hingegen aufpassen, dass es nicht unseren Nahverkehr verstopft. Das wäre nicht in unserem Interesse. Das macht uns unfrei.

Zur Person

Der britische Autor und Journalist Brett Scott absolvierte in Cambridge den Studiengang „International Development with Anthropology“, arbeitete zunächst als Broker und später an Universitäten sowie für alternative Institutionen wie The Finance Innovation Lab.

Scott befasst sich mit Fragen des internationalen Finanzwesens und insbesondere mit der Entwicklung von alternativen und digitalen Währungen. Der Autor von „The Heretic’s Guide to Global Finance: Hacking the Future of Money“ (2013) und „Cloudmoney – Cash, Cards, Crypto and the War for our Wallets“ (2022) untersucht in seinen Werken vor allem die Schnittpunkte zwischen Geldsystemen, Finanzen und digitaler Technologie.

Buchtipp

„Cloudmoney – Cash, Cards, Crypto and the War for our Wallets“, Brett Scott, Mai 2022, Verlag Bodley Head, 304 Seiten, ISBN: 9781847925879. Publikationen als Hardback, E-Book und Audio-Download.

In der deutschen Übersetzung, „Cloudmoney – Cash, Karte oder Krypto: Warum die Abschaffung des Bargelds unsere Freiheit gefährdet“, wurde das Buch in der Übersetzung von Thorsten Schmidt im September 2022 publiziert. Hardcover, Pappband, 352 Seiten.

ISBN: 978-3-328-60127-2.

Information

Die Seiten beruhen auf einer Medienkooperation mit der „Presse“ und sind mit freundlicher Unterstützung der Münze Österreich AG entstanden.

Die im Interview wiedergegebenen Standpunkte und Ansichten stellen die Meinungen des Interviewpartners und nicht zwangsläufig die Position der Münze Österreich AG dar.


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