Redebedarf

Die Party und der soziale Kater danach

100 Rätsel der Kommunikation. Zuviel Interaktionen an einem Abend. Da wünscht man sich am nächsten Tage einen Automaten als Gesprächspartner.

Die Welt ist voller Menschen. Und die wenigsten davon ist man selbst. Dem eigenen Spiegelbild im Badezimmer, dem kann womöglich noch aus dem Weg gehen. Vor allem nach einer langen Nacht, die man mit ein paar Getränken verkürzt hat. Den meisten Menschen allerdings dagegen nicht. Trotz Home-Office. Denn sie fahren auch U-Bahn. Oder sie verkaufen einem Kipferl oder Fahrscheine. Sie wohnen im selben Haus und benutzen womöglich dieselben Gehsteige. Die Stadt ist voller Gesichter. Und nur weil sie einen nicht ständig anschauen, heißt das nicht, dass das eigene Gehirn nicht ständig mit ihnen zu tun hat. Es muss sie einordnen, das passiert im Hintergrund, schluckt aber trotzdem Arbeitsspeicher und Energie, wie beim Smartphone.

Mann, Frau, Genderfluid, Kind, Erwachsener, Vorgesetzter, Polizist, da gibt es einiges zu decodieren. Allein wer einem gegenüber steht, sollte das Gehirn herausfinden, bevor man frech, überheblich, rassistisch wird. Die anderen ignorieren, das allein hilft nicht. Kaum sind die Menschen da, muss man sie auch „verarbeiten“. Wissenschaftler haben einmal festgestellt, dass Menschen ein böses Gesicht aus einer Menschenmenge von tausenden freundlichen herauslesen kann. Ganz automatisch. Denn – evolutionär gesehen – war es egal, ob man von einem Feind oder von tausend gleichzeitig verspeist wird. Auch U-Bahn-Fahrten muss man erst einmal kognitiv verarbeiten. Selbst wenn alle so bemüht sind, gar nicht da zu sein, sicherheitshalber in ihre Handys schlüpfen, gedanklich zumindest, ihre Körperteile, auch die schwitzenden, unbekleideten, zahlreichen lassen sie ja trotzdem zurück in der Garnitur. Aber eigentlich müsste das soziale Wesen Mensch diesen Zustand ja feiern: He, so viele von meiner Sorte auch noch da. Kommt, wir feiern, was wir gemeinsam haben! „Die Hände zum Himmel...“ 

Es gibt viel zu tun

Aber das macht man sonderbarerweise dann doch lieber auf Partys. Die Küche ist dabei der ideale Ort für die Krönung der Schöpfung, die aus den Baumkronen Afrikas heruntergestiegen ist. Ein geniales Design-Konzept: Übersicht, geschützter Rücken bei gleichzeitigem freiem Fluchtweg. Und Energie-Nahversorgung aus dem Kühlschrank. Eine Affenfamilie würde glatt einziehen. Da steht man nun, muss zuhören und dabei noch mal so viel lesen. In den Gesichtern und in den Botschaften. Meinen die das alles ernst, was sie sagen? Aber meist ist man eh nur bemüht, möglichst so wie die anderen zu sein. Dafür muss man sich gar nicht erst bemühen, das funktioniert meist automatisch. Da fällt einem ein, man war ja auch einmal auf Korfu. Und die Kinder, ja die eigenen werden ja auch so schnell groß. Die Hälfte der Zeit der Party-Konversation sucht man Gemeinsamkeiten. Interessiert zeigen, zuhören, an den richtigen Stellen nicken, vortäuschen, dass man aufs Klo muss, es gibt viel zu tun.

Die Folge: Soziale Erschöpfung. Ein Zustand, der sich bei manchen Menschen zusammenbraut, die ständig hier, dort und überall sind. Aber auch ein Zustand, der sich schon nach einer einzigen Party einstellen kann. Am nächsten Tag wartet Kater eins und Kater zwei. Der eine kommt von der Energie-Nahversorgung. Der andere vom Overflow der sozialen Signale, mit denen man überschüttet wurde. Da wünscht man sich mal eine Sozialpause. Aber essen will man trotzdem. Hinaus ins Lokal, das wäre schon zu viel Interaktion. Da kommen Menschen, die wollen wissen, was man will. Deshalb dann lieber zum Fast-Food-Eck. Vor allem jenen, an dem man fast ausschließlich mit Maschinen interagieren darf, um die Extra-Saucen in Auftrag zu geben. Diese Automaten sagen auch „Hallo“ und „Danke“ und sind insgesamt meist freundlicher als andere Teile der Belegschaft. Zuhause hat man dann eh wieder genügend zu tun. Mit dem eigenen Spiegelbild und so.

100 Rätsel der Kommunikation

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