Enttarnungen im neuen Cyberkrieg

Der Krieg im Netz ist alt und seine vielfach anonymen Truppen sind nicht immer böse. Eine überhitzte Debatte braucht Abkühlung.

Die Faxgeräte bei Amazon, Mastercard und Visa laufen dieser Tage heiß. Die Papiere, die sie meterweise ausspucken, sind keine Beschwerden unzufriedener Weihnachtseinkäufer – es sind Kopien jener Diplomatenberichte, die WikiLeaks unlängst veröffentlicht hat.

Diese vergleichsweise harmlose und zugleich humorvolle Protestaktion ist eine von vielen Antworten auf die Weigerung dieser Konzerne, mit WikiLeaks zusammenzuarbeiten. Eine weitere Reaktion war der Angriff auf deren Webserver vor einigen Tagen. „Der Spiegel“ und zahlreiche Kommentatoren sehen bereits einen neuen „Cyberkrieg“ heraufziehen. Über „Anonymous“, so nennt sich die „Armee von WikiLeaks“, kursieren allerlei Gerüchte und Halbwahrheiten. Höchste Zeit, mit einigen Vorurteilen aufzuräumen – und andere zu bestätigen.

Kein linksextremer Trupp

•Die Falschannahmen Nr.1 bis 3: Anonymous ist ein Trupp linksextremer Hacker. Dreimal unrichtig. Zunächst zur Vorstellung, dass es sich bei den Angreifern um einen Trupp, eine geschlossene Gruppe handelt: Anonymous ist ein fluktuierendes Onlinekollektiv.

Niemand – auch Anonymous selbst nicht – weiß, wie viele Menschen dabei sind. Jeder kann teilnehmen, es gibt kein Aufnahmeprozedere und keine Anführer, wohl aber Plattformen, auf denen anonym kommuniziert wird. Die Medienwissenschaftlerin und Bloggerin Jana Herwig vergleicht Anonymous mit einer Maske, die sich jeder jederzeit überstülpen kann.

Wie ist so ein Zusammenschluss handlungsfähig? Ganz einfach: Jemand schreit lauthals eine Idee heraus – finden sich genug andere, die diese Idee gutheißen, dann wird sie umgesetzt.

Auch wenn Anonymous gegen staatliche Behörden und Konzerne kämpft, ist Anonymous nicht primär links. Vielmehr eint Anonymous der Glaube an die absolute Transparenz und der Wille zur Agitation. Das Spektrum der Anhänger reicht von Anarchisten über Verschwörungstheoretiker und rechte Libertäre bis hin zu ideologiefreien Internet-Kids. Auf der Plattform 4chan.org, einem ihrer wichtigsten Foren, finden sich zahllose sexistische, rassistische und demütigende Inhalte – Auswüchse, die selten „linken Gutmenschen“ einfallen.

Jahrelange Auseinandersetzung

Nur die wenigsten der anonymen Aufrührer sind Hacker oder sehen sich als solche. Online kursieren Anleitungen und Programme, mit deren Hilfe man sich an den Protesten beteiligen kann – ein wenig Medienkompetenz und Zeit vorausgesetzt.
•Falschannahme Nr.4: Wir haben einen neuen „Cyberkrieg“. Die „Operation Payback“, eine von mehreren Aktionen gegen die WikiLeaks-Repressionen, gibt es nicht erst seit September 2010, also lang vor den Veröffentlichungen der diplomatischen Depeschen.

Vor den WikiLeaks-Gegnern hatte Anonymous die Urheberrechtsindustrie angegriffen. Die Aktion reiht sich ein in jahrelange Auseinandersetzungen, bei denen es um Freiheit und Restriktion im Internet geht. Die meisten Attacken von Anonymous zielen auf Webserver ab, bleibender Schaden entsteht selten.

Vielerlei Protestformen

Die Serverattacken sind eine von vielen Protestformen. In zahlreichen Ländern hat sich der virtuelle Protest bereits auf die Straße verlagert, indem beispielsweise WikiLeaks-Dokumente als Plakate angebracht wurden.

Auch in Österreich könnte es bald so weit sein. Wir alle sind ein Teil von Anonymous, wenn wir die Depeschen lesen und ihre Inhalte in die Welt tragen, egal ob offline oder online.

Julian Ausserhofer arbeitet im Web Literacy Lab des Studiengangs „Journalismus und PR“ der FH Joanneum Graz und lebt in Wien.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.12.2010)

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