Russland

Wer protestiert, wird in den Krieg geschickt

Erstmals seit Ende Februar gab es in mehreren russischen Städten wieder Proteste gegen Putins Politik - ausgelöst durch die Teilmobilmachung der Militärreserve. Im Bild: eine Festnahme in St. Petersburg am Mittwoch.
Erstmals seit Ende Februar gab es in mehreren russischen Städten wieder Proteste gegen Putins Politik - ausgelöst durch die Teilmobilmachung der Militärreserve. Im Bild: eine Festnahme in St. Petersburg am Mittwoch.APA/AFP/OLGA MALTSEVA
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Erstmals seit Ende Februar formierten sich Proteste gegen die Kriegspolitik Putins. Die Polizei geht mit Gewalt dagegen vor. Mit dem Einberufungsbefehl macht der Kreml Kritikern Druck und sorgt für eine Fluchtbewegung aus Russland.

Mittwochfrüh machte Russlands Präsident Wladimir Putin einen weiteren Schritt auf der Eskalations-Leiter: bei einer Ansprache im Fernsehen befahl er die Teilmobilisierung von Russlands Streitkräften. Insgesamt 300.000 Reservisten sollen zum Kampf gegen die Ukraine eingezogen werden. Doch die Einberufung in den Krieg, der in Russland nur „Militärische Spezialoperation“ genannt werden darf, wird auch als politisches Druckmittel gegen Andersdenkende verwendet. Und sie bringt viele Männer dazu, das Land zu verlassen.

Bei Protesten in Russland gegen die Teilmobilmachung sind mehr als 1300 Menschen festgenommen worden. Das Bürgerrechtsportal OVD-Info zählte am Mittwochabend über 1350 Festnahmen in 38 Städten des Landes. Allein in St. Petersburg wurden diesen Angaben zufolge 556 Demonstranten in Gewahrsam genommen, in der Hauptstadt Moskau waren es ebenfalls mehr als 500. Die Behörden machten zunächst keine Angaben zu den Festnahmen.

Bei den Protesten in Moskau riefen die Menschen "Nein zum Krieg!" oder forderten ein "Russland ohne Putin". Fotos und Videos zeigten, wie Polizisten die meist jungen Demonstranten grob ergriffen und in Busse schleppten. Von dort wurden die Festgenommenen in Polizeistationen gebracht. Ähnlich große Proteste hatte es zuletzt in den Tagen direkt nach dem russischen Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar gegeben.

In Tomsk und Irkutsk in Sibirien, in Jekaterinburg am Ural und an anderen Orten gingen demnach vereinzelt Menschen auf die Straße. Sie hielten Plakate mit den Farben der ukrainischen Flagge und Sprüchen wie "Nein zur Mobilisierung!" in die Höhe.

Einberufung als Druckmittel

Wie der US-Sender CNN berichtet, wurde einem bei den Protesten verhafteten Mann mit strafrechtlicher Verfolgung gedroht, weil er sich weigerte, eingezogen zu werden. Wer das Land verlässt oder den Wehrdienst verweigert, dem drohen in Russland 15 Jahre Haft. Russische Medien warnten, dass jeder, der an "illegalen Kundgebungen" teilnimmt, zum Militär eingezogen werde, berichtete Samuel Ramani vom Royal United Services Institute for Defence and Security Studies in London auf Twitter.

In Sozialen Medien kursieren auch Beiträge von Russen, die sich vor Jahren - gegen Geld - von der Wehrpflicht befreien ließen und nun einberufen wurden. Darstellungen, die unabhängig kaum überprüfbar sind.

Seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine vor knapp sieben Monaten geht die russische Staatsmacht unter anderem mit verschärften Gesetzen hart gegen Oppositionelle und Kriegsgegner vor. In den Polizeirevieren wurden den Festgenommenen verschiedene Delikte zur Last gelegt, unter anderem Widerstand gegen die Polizei und Diskreditierung der Armee.

Auch Abgeordnete sollen kämpfen

Russlands Parlamentschef Wjatscheslaw Wolodin hat die Abgeordneten der Staatsduma ebenfalls zur Teilnahme an dem Krieg in der Ukraine aufgerufen. "Wer den Anforderungen der Teilmobilmachung genügt, sollte mit seiner Teilnahme bei der militärischen Spezialoperation helfen", teilte der Duma-Chef am Donnerstag in seinem Nachrichtenkanal bei Telegram mit. "Es gibt keinen Schutz für die Abgeordneten."

Der Parlamentschef reagierte damit auf die wohl in Abgeordnetenkreisen nicht seltene Auffassung, für sie gelte der Aufruf Putins zur Landesverteidigung nicht. Ein Abgeordneter hatte gemeint, er werde im Land gebraucht. Zugleich lobte Wolodin, dass es Parlamentarier gebe, die bereits im Donbass im Einsatz seien. Eingezogen werden nach seiner Darstellung nur Reservisten mit Kampferfahrungen und militärischen Spezialausbildungen.

Teure Flugtickets, aber kein Mega-Stau zu Finnland

Das Gefühl einer „fernen“ Militäroperation ist für Millionen Russen abseits des politischen Betriebs in Moskau am Mittwoch aber zu einer realen Bedrohung des eigenen Lebens geworden. Sie sind mit der Erkenntnis aufgewacht, dass sie sich möglicherweise am Krieg und der Besetzung der Ukraine beteiligen müssen. Fast sieben Monate lang haben viele Russen versucht, die Invasion in der Ukraine einfach zu ignorieren. Jetzt ist der Krieg für viele Familien nach Hause gekommen.

Für viele ist Flucht die einzige Alternative. Das machen auch die Preise für One-Way-Tickets in jene Länder deutlich, in denen Russen kein Visum brauchen. Die Preise schossen in die Höhe bzw. waren die Tickets am Mittwoch schnell ausverkauft - vor allem in Ex-Sowjetrepubliken wie Armenien, Georgien, Aserbaidschan oder Kasachstan.

Medien berichteten auch von einem Dutzende Kilometer langen Stau an der russisch-finnischen Grenze. 35 Kilometer soll dieser lang gewesen sein. Doch der finnische Grenzschutz dementierte. Die entsprechenden Videos seien früher entstanden und nun aus dem Zusammenhang gerissen worden, so die Behörde.

Bestätigt ist jedenfalls: Russlands Nachbarland Finnland registrierte mehr Verkehr an der gemeinsamen Grenze. Der Grenzverkehr in Südostfinnland habe in der Nacht zugenommen und sei geschäftiger als sonst gewesen, teilte der Grenzschutz in der Region am Donnerstag mit. Dieses Bild habe sich am Morgen fortgesetzt.

Nach Angaben des Leiters für internationale Angelegenheiten des finnischen Grenzschutzes, Matti Pitkäniitty, kamen am Mittwoch insgesamt 4824 Russinnen und Russen über die Grenze in Finnland an. Am selben Tag der Vorwoche seien es 3133 gewesen. "Die gestrige Zahl ist niedriger als an einem normalen Wochenende", betonte Pitkäniitty.

Die Frage nach Visa für russische „Regime-Flüchtlinge"

Der finnische Außenminister Pekka Haavisto kündigte an, Finnland werde eine eigene Lösung für die Frage russischer Touristenvisa finden. "Finnland will kein Transitland für Schengen-Visa werden, die andere Länder erteilt haben", sagte Haavisto dem öffentlich-rechtlichen Rundfunksender Yle zufolge am Mittwochabend. "Es gibt keine moralische Rechtfertigung dafür, dass die russischen Ferien so weitergehen wie bisher." Helsinki habe die Visa-Frage mehrmals in der EU angesprochen. Die Grenze zu Russland solle aber nicht komplett geschlossen werden, da es weiterhin legitime Gründe für die Einreise nach Finnland gebe.

Finnland grenzt auf 1340 Kilometern Länge an Russland. Damit hat das nordische Land unter den EU-Staaten die mit Abstand längste Grenze zu Russland. Russischen Touristen ist es Yle zufolge bisher trotz des Angriffskriegs gegen die Ukraine weiter möglich gewesen, per Bus oder Auto über die finnische Grenze in den Schengenraum einzureisen.

Dass sich die aktuellen Proteste zu einem landesweiten Problem für Kremlchef Putin auswachsen, damit ist vorerst nicht zu rechnen. Doch der Unmut wächst, soweit ihn der Drohungs- und Zensurkultur an die Oberfläche kommen lassen. Und mit dem Einberufungsbefehl greift Putin massiv in das Leben vieler Menschen des Landes ein. Die Oppositionsbewegung Vesna rief bereits zu weiteren Protesten auf und erklärte laut britischer Zeitung „The Guardian": "Tausende von russischen Männern, unsere Väter, Brüder und Ehemänner, werden in den Fleischwolf des Krieges geworfen. Wofür werden sie sterben? Weshalb werden Mütter und Kinder weinen?"

(c) Die Presse

(klepa/Ag.)

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