Roman

"Der rote Diamant": Schatzsuche im Kloster

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Thomas Hürlimanns Roman "Der rote Diamant" beginnt in einem Schweizer Kloster-Internat in den 1960er Jahren, steigert sich aber immer mehr zu einem atemberaubenden Abenteuerroman.

Wie ein „Gebirge mit Hunderten von Fenstern“ wirkt das Schweizer Kloster Maria zum Schnee auf den elfjährigen Arthur, als seine Mutter ihn dort abliefert. Es ist das Jahr 1963. Bald wird Bob Dylan seine Hymne des Wandels „The Times They Are a-Changin‘“ singen. Auch wenn im Schweizer Internat die Uhren vorerst noch anders gehen, liegt Veränderung in der Luft. 

Arthur, der Bub aus guten Verhältnissen, wird zum Zögling mit der Nummer 230, trägt Kutte und Sandalen. Das Kloster, so hoch gelegen, dass es meist schneit, ist eine Welt der Eigenbrötler, in der der „ewige Tag“ herrscht. Bruder Uhrmacher sitzt im Glockenturm, Pater Silver träumt – mit Papagei – in seiner „Bücherarche“ von der Südsee, Fürstabt Meinradus der Dämmerer ist dement und wird vom Jerry-Cotton-lesenden Bruder Odo betreut, während der Internatsleiter, der gefürchtete Bruder Frieder, stetig seinen Einfluss in den Klostermauern ausbaut. Im Geiste des Zweiten Vatikanischen Konzils, das gerade im Gange ist,  wünscht er eine volksnahe Kirche und von den Zöglingen, die er „gegen die Radiowellen abschirmt“, weder Faulheit noch Höchstleistungen, sondern bescheidenen Durchschnitt.

Die Zöglinge verbringen ihr Leben in Sälen, „im Schlafsaal wurde geschlafen, im Speisesaal gegessen, in den Museen studiert“, und Arthur versinkt in einer Masse, deren Tagesablauf immer gleich ist, sogar die Därme entleeren alle zur selben Zeit, während der Subpräfekt streng darüber wacht, dass niemand onaniert oder verbotene Bücher liest. Doch die „Steinstadt“ hat auch ihre aufregenden Seiten. Jedes Jahr fiebern Mönche und Zöglinge dem Besuch von Zita, der letzten Kaiserin Österreichs, entgegen, die im Gefolge ihrer treuen Entourage eine Seelenmesse für ihren verstorbenen Mann, Kaiser Karl I., feiert und ein großes Schnitzelessen spendiert.

Thomas Hürlimann, weiß, wovon er schreibt. Seine Jugend in den 1960er Jahren hat er im Schweizer Kloster Einsiedeln verbracht. Dem Roman haftet jedoch weder Bitterkeit noch Nostalgie an, sondern ein feiner ironischer Ton, mit dem er in eine versunkene Welt entführt. Der eigentlich Kniff jedoch ist, dass aus dem Internatsroman zunehmend eine Abenteuergeschichte wird, in deren Zentrum ein geheimnisvoller roter Diamant steht, der über die Jahrhunderte seine illustren Besitzerinnen und Besitzer wechselte, von Kleopatra über den Vatikan bis zu den Habsburgern, denen er nach dem letzten gescheiterten Restaurationsversuch von Kaiser Karl 1921 verloren ging und somit auch nicht in den Händen der Republik Österreich landete. Reales Vorbild für den „roten Diamanten“ ist  der „Florentiner“, ein historischer Diamant von der Größe einer Walnuss, der ebenso rätselhaft verschollen ist. 

Hürlimanns Schilderungen des Internatslebens sind so authentisch, dass der Lesende sich irgendwann fragt, wo die autobiografisch gefärbte Realität entgleitet, und die Fiktion beginnt, denn die Jagd nach dem Diamanten gestaltet sich für die Zöglinge zunehmend abenteuerlich, und jede kleine Fährte, die der Autor ausgelegt hat, flicht er nun zu einem atemberaubenden Erzählstrang. Während Freundschaften und erste Lieben entstehen und brechen, kommen die Schatzsucher dem Diamanten Jahr für Jahr näher, entlocken sterbenden Patres Geheimnisse und wagen riskante Manöver, die für einen Schüler mit dem Rausschmiss enden. 

Der Geist der Veränderung, schließlich hat man sich dem Jahr 1968 angenähert, färbt auch auf die Schatzsuche ab. In einer der überraschendsten Szenen des Romans nehmen Arthur, seine Mutter und seine Hippie-Freundin Rose Meskalin ein, dass der zwielichtige Viper, lange Kopf der Schatzsucher-Gruppe, besorgt hat, und besuchen die Klosterkirche, in der Hoffnung das Funkeln des Diamanten zu erkennen. Trotzdem entwischt der Edelstein. 

Die Zöglinge werden erwachsen, den Schatz aber vergessen sie nie – bis ins Pensionsalter nicht. Hürlimann schenkt den Lesenden schließlich einen Showdown von cineastischen Ausmaßen, der an Indiana-Jones-Filme erinnert. Es liegt jedoch der Verdacht nahe, dass der Autor den roten Diamanten als Metapher benutzt, um über die magischen Dinge der Jugend zu philosophieren, die einen lebenslang nicht loslassen. Damit gelingt ihm ein Meisterwerk der Fabulierkunst. 

(c) Verlag S. Fischer

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