Die Welt bis gestern

Russische Geschichtsmythen

Despotie ist unvermeidlich auf dem Weg zur Größe: Zar Iwan IV., der „Schreckliche“.
Despotie ist unvermeidlich auf dem Weg zur Größe: Zar Iwan IV., der „Schreckliche“.Art Images via Getty Images
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Russland. Visionen der Vergangenheit, die mehr auf Erfindungen als auf seriöse Fakten zurückgehen, sind in Russland allgegenwärtig. Sie dienen der Legitimierung der Politik.

Im Juni 2022 wurde bekannt, dass eine chinesische Hausfrau namens Zhemao über Wikipedia 206 erfundene Artikel über die Geschichte Russlands verbreitet hatte. Zehn Jahre lang strickte sie an ihrem raffinierten Lügennetz, angeblich weil ihr langweilig war. Sie untermauerte die langen und detaillierten Texte, die auch in der englischen Wikipedia erschienen, mit fiktiven Fußnoten. Das flog durch einen Zufall auf, weil die Quellennachweise einer Überprüfung nicht standhielten. Frau Zhemao sollte einen historischen Roman verfassen. Die Qualifikationen dafür hat sie.

Die spöttische Reaktion in den sozialen Medien war naheliegend: War vielleicht die ganze russische Geschichte von Zhemao erfunden worden? In der Tat verschmelzen Propaganda, Legenden und Geschichtsschreibung in alten russischen Chroniken zu einer Einheit. Die Flüchtigkeit der Fakten, wenn es um die ferne Vergangenheit geht, ist keine Überraschung. Wie viele andere geisteswissenschaftliche Disziplinen ist Geschichte eine Wissenschaft, in der es schwierig ist, von einer ultimativen Wahrheit zu sprechen. Doch in Russland haben Spekulation und Erfindung auch in der Gegenwart große Bedeutung erlangt, die „Historiker“, auf die sich Präsident Wladimir Putin stützt, verdienen in der Regel diesen Namen nicht.

Es ist ein altes Bonmot: Jedes Land hat eine nationale Erzählung, die aus Fakten, falsch erinnerten Ereignissen und reinen Mythen besteht. Die Menschen erzählen sich von Generation zu Generation Geschichten über die Vergangenheit, um den Verwirrungen ihrer Gegenwart einen Sinn zu geben und zu erklären, woher sie kommen und wer sie sind. Manchmal schreiben sie die Geschichte auch um, lassen unangenehme oder schändliche Episoden aus, versuchen sie zu rechtfertigen oder erfinden neue. Das nährt den Patriotismus und hält zusammen, so sehr, dass wir im Namen der „Nation“ sogar bereit sind, dem Nachbarn den Schädel einzuschlagen oder unser Leben zu opfern. Europa liefert genug Beispiele dafür.

Rechtfertigung für Aggression

Auch die Russen ziehen es vor zu glauben, dass sich ihre Geschichte in einer geraden und positiven Linie entwickelt hat. Sie erklären beunruhigende Ereignisse wie die brutalen Regentschaften von Tyrannen wie Iwan dem Schrecklichen oder Stalin als notwendige Etappen auf dem Weg zur Größe. Doch nirgendwo sonst in der modernen Welt wurde die Geschichte in jüngster Zeit so verdreht, um eine Rechtfertigung für Aggression und Unterdrückung zu schaffen wie in Putins Russland. Das Geschichte-Magazin der „Presse“ über die Ukraine liefert zahlreiche Beispiele dafür.

Vor mehr als tausend Jahren entstand auf dem Gebiet des heutigen Russland ein Volk, das die orthodoxe Version des Christentums aus Byzanz übernahm und sich damit unwiderruflich unterschied von dem Teil Europas, der sich für den römischen Katholizismus entschied. Es entwickelte seine eigene slawische Sprache und schuf die Kiewer Rus, ein großes mittelalterliches Reich. Von hier stammen die heutigen Russen, Ukrainer und Weißrussen ab. Doch es wurde im dreizehnten Jahrhundert von den Mongolen überfallen und zerstört.

Oder doch nicht? Nach Anatolij Formenko, einem Verschwörungstheoretiker und dilettierenden Historiker, war Russland damals Teil einer großen russischen Horde, zu der auch Dschingis Khans Mongolen gehörten. Daraus folgt, dass die mongolische Invasion niemals stattgefunden hat, alle Quellen, die von Kriegen zwischen Slawen und Mongolen berichteten, seien von der Romanow-Dynastie erfundene Falschmeldungen. Will der Mann die Geschichtswissenschaft parodistisch verspotten?

Es war zu erwarten, dass im Westen ein halbes Jahr nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs Bücher erscheinen würden, die sich kritisch mit russischer Mythenbildung auseinandersetzen. Eines davon stammt von dem ehemaligen englischen Botschafter in der Sowjetunion, Rodric Braithwaite, und trägt den Titel „Russia – Myths and Realities“. Der bekannte Russland-Spezialist Orlando Figes hat mit „The Story of Russia“ ebenfalls eine kompakte Übersicht von der Kiewer Rus bis zu Putins Ukraine-Krieg vorgelegt, das Buch wird im Spätherbst auch auf Deutsch erscheinen.

Beide schildern, wie die zersplitterten Fragmente des Kiewer Reiches in den folgenden Jahrhunderten von den Moskauer Großfürsten zusammengefügt wurden. Der neue Staat erholte sich, Peter der Große und seine Nachfolger verwandelten ihn in eine imperiale Großmacht, eine dominierende Kraft in Europa. Im 20. Jahrhundert wurde Russland überhaupt Supermacht. 1991 brach das Imperium auseinander, und der Respekt der Welt war weg. Russland stürzte erneut in Inkohärenz und internationale Bedeutungslosigkeit ab. Für viele Russen erschien Wladimir Putin als der, der Russland so etwas wie seinen rechtmäßigen Platz in der Welt zurückgeben konnte.

Jetzt, da zwischen Russland und dem Westen wieder Eiszeit herrscht, ist es nicht verwunderlich, dass sich die russische Bevölkerung immer weniger mit Europa identifiziert. Unter solchen Bedingungen gewinnt die Idee des russischen Sonderwegs, die schon im 19. Jahrhundert kursierte, wieder an Aktualität. Gemeint ist die Unvergleichbarkeit des Landes mit anderen Gesellschaften und Kulturen: sein einzigartiges historisches Schicksal, die Ambition als eurasisches Reich und das Gefühl universeller religiöser Berufung als selbst ernannter Nachfolger von Byzanz.

Von Gott und der Geschichte erwählt

Viele Russen glauben, dass ihre Nation etwas Besonderes ist und von Gott oder der Geschichte auserwählt wurde, um einer gottlosen Welt die Erleuchtung zu bringen. Dieses messianische Sendungsbewusstsein, im 19. Jahrhundert von Dostojewski und vielen anderen propagiert, entstand in der Orthodoxie des mittelalterlichen Moskaus und hat bis heute überlebt. Im 20. Jahrhundert teilten die Bolschewiki das Sendungsbewusstsein, obwohl für sie Gott durch die Geschichte ersetzt wurde, die sich durch das Instrument des Kommunismus ihren Weg bahnt.

Präsident Putin kehrte zu der Vorstellung zurück, dass das moderne Russland einen exklusiven Anspruch auf das Erbe des orthodoxen Staates der Kiewer Rus habe. Die Trennung zwischen Russland und der Ukraine zerstöre einen einheitlichen historischen und geistigen Raum. Das war der Auslöser für seinen Einmarsch in die Ukraine.

Bücher

Rodric Braithwaite
Russia. Myths and Realities

Profile Books
270 Seiten,
24,90 €

Orlando Figes
The Story of Russia

Bloomsbury UK
347 Seiten
22,90 €

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.09.2022)

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