Unterwegs

Was ein Naschmarkt-Essen über unsere Zeit verrät

Ach, in was für einer öden Gesellschaft sind wir doch heutzutage gelandet! Eine unbeabsichtigte Feldstudie zu Food-Fotos zeigt es.

Gehört das hierher? Doch. An einem lauen Septemberabend eine Meeresfrüchteplatte auf dem Naschmarkt zu essen ist keine Reise, aber ihr bestes Surrogat. Und die Interaktionen erfolgten mit vorbeiflanierenden Touris, die ihre stets schussbereite Handykamera auf die im Schnitzel-Mekka unerwartete Ansicht richteten. Vor 20 Jahren hätte sich eine vergleichbare Szene so abgespielt: Jede knipsende Frau (und der eine oder andere kecke Mann) hätte meinem Kumpel, der hinter dem Meeresgetier und damit im Bildausschnitt saß, zugezwinkert und gerufen: „So ein fescher Typ, den muss ich doch fotografieren!“ Ein unschuldiges Spiel, eine charmante Lüge, alle hätten es gewusst, gelacht und sich wohlgefühlt. Und im Jahr 2022?

Durch die Bank: ein verkrampftes „Entschuldigen Sie bitte, dürfte ich Ihr Essen fotografieren – natürlich nicht Sie, keine Sorge“. Korrekt, distanziert, nur ja nicht zu nahe kommen. Und eine Frechheit, denn das „natürlich“ implizierte, mein Kollege sei keine anziehende Erscheinung, was er doch ist. So klang denn auch sein gegrummeltes „Ja sicher“ immer missmutiger.

In was für einer öden Gesellschaft sind wir da gelandet? Nein, wir wollen nicht zurück zu Zeiten, in denen Burschen nach Mädchen pfiffen. Das war plump und sexistisch. Aber wir wollen wieder galant und kokett sein, und nicht in neopuritanischem Tugendfuror das Faktum aus dem Feierabend verbannen, dass Menschen geschlechtliche Wesen sind. Frei nach Schiller und Brecht: Sparet nicht an Würde, aber noch weniger an Anmut. Sonst bestellen wir das nächste Mal nur noch ein Schnitzel.

karl.gaulhofer@diepresse.com


Nächste Woche:
Christoph Zotter

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.09.2022)

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