Literatur

In fremde Leben schlüpfen

„Intimitäten“: Katie Kitamuraverwehrt ihrer Protagonistin den Namen – vielleicht ist die Dolmetscherin deshalb ständig auf der Suche.

Wie ergeht es einem, kommt man neu in eine Stadt, in der man niemanden kennt, wo man sich noch nicht zurechtfindet? Für die namenlose Ich-Erzählerin in Katie Kitamuras Roman „Intimitäten“ ist das einzig Vertraute das berufliche Eintauchen in fremde Leben: Sie ist als Dolmetscherin für den Internationalen Gerichtshof nach Den Haag gekommen. „Dolmetschen“ heißt auf Englisch „interpretation“, und mit dem Ausdruck wird die Tätigkeit am besten beschrieben: Letztlich sind Dolmetscher Sprachrohre, eigentlich nur Statisten, „die im Hintergrund zugange sind“, sowie Gebrauchspersonen, die keine Persönlichkeit und kein eigenes Schicksal mitbringen dürfen. Derjenige, der das Sprachrohr bildet und damit eine Brücke baut, überträgt nicht nur von einer Sprache in eine andere, sondern muss mehr transportieren/interpretieren: den Tonus, das Gebaren des Sprechenden. Oft wissen Dolmetscher am Ende ihrer Arbeit gar nicht, worum es in dem Gespräch, das sie übersetzt haben, ging, so sehr waren sie auf einzelne Wörter und deren korrekte Übertragung konzentriert: „Zwischen einzelnen Wörtern, zwischen zwei oder mehr Sprachen konnten sich ohne Vorwarnung Abgründe auftun. Unsere Aufgabe beim Dolmetschen bestand darin, solche Klüfte zu überbrücken. Dieser Lotsendienst war bedeutsamer, als man meinen mochte.“

In Kitamuras Roman schimmert die unermüdliche Suche der Dolmetscherin nach Halt, nach Heimat durch: in der Sprache, die dauernd wechselt, am Arbeitsplatz, der sich ebenso oft ändert, in den Menschen, die kommen und gehen. Die Amerikanerin japanischer Herkunft hat eine große Wohnung gemietet, die voll ausgestattet ist, aber ein heimeliges Gefühl stellt sich bei ihr nicht ein. Ist es wirklich „nur“ das unstete Leben, das ihr ein solches verwehrt? Was ist mit dem Gedanken, Heimat liege in einem selbst? Die Dolmetscherin ist einsam, sucht Anschluss, hofft auf die Freundschaft zweier Frauen, aber sie tut sich schwer: Aufgrund ihres Berufs achtet sie stark auf Zwischentöne und Gesten, hinterfragt fast jeden Satz ihres Gegenübers. Auch der Mann, zu dem sie sich hingezogen fühlt, kann keine Sicherheit bieten: Es ist nur eine Affäre.

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