Interview

Politologe Fukuyama: Der alte Hass auf die neue Vielfalt

Familie in London: Annabella Dudziec ist Britin, ihr Vater Pole, die Kinder haben einen Vater aus Ruanda.
Familie in London: Annabella Dudziec ist Britin, ihr Vater Pole, die Kinder haben einen Vater aus Ruanda. Chris Steele-Perkins / Magnum Ph
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Francis Fukuyama verteidigt in seinem aktuellen Buch den Liberalismus – gegen die Rechte und die Linke. Ein Gespräch über die Tücken der Identitätspolitik, die Angst vor dem anderen und das „Ende der Geschichte“.

Sie verteidigen in Ihrem neuen Buch den Liberalismus. Was meinen Sie damit? Es geht ihnen ja weder um linke „Liberals“ in den USA noch um die liberalen Parteien in Europa. Um was dann?

Der klassische Liberalismus wurde erschaffen, um mit Vielfalt umzugehen. Das ist heute noch seine Funktion. Eine liberale Gesellschaft basiert darauf, dass sie allen Menschen gleiche Würde zusichert und ihre Freiheit verteidigt, durch Rechtsstaatlichkeit und Kontrolle der staatlichen Macht. Das geht in einem schlanken Staat genauso wie in einem voll ausgebauten Wohlfahrtsstaat.

Sie wurden 1992 berühmt durch Ihre These vom „Ende der Geschichte“: Liberale Demokratie und Marktwirtschaft würden sich global durchsetzen. Seit 9/11 ist es beliebt, diese Prognose als grandiosen Irrtum zu verlachen. Wollen Sie Abbitte leisten, oder stehen Sie weiter dazu?

Viele haben das Argument missverstanden. Ich meinte die großgeschriebene „History“ wie bei Hegel – die Richtung, die der Entwicklungspfad der Menschheit einschlägt. Dass die Geschichte nicht im Kommunismus kulminiert, hat sich damals gezeigt. Und meine Annahme war, dass es stattdessen die liberale Demokratie sein würde, verbunden mit Marktwirtschaft. Die Frage ist: Gibt es eine wünschenswertere Alternative dazu? Die habe ich bis heute nicht gesehen. Der einzige ernst zu nehmende Konkurrent ist China: kein freies Land, aber wirtschaftlich erfolgreich und bisher sozial stabil. Doch es häufen sich große Probleme an. Und das Gesellschaftsmodell ist nicht attraktiv: Ich sehe nicht Millionen Menschen, die nach China ziehen wollen, so wie die Millionen, die nach Nordamerika drängen.



Warum ist dann der Liberalismus weltweit bedroht? Sie schreiben, dass Linke wie Rechte die Vielfalt nicht wollen. Bei Rechten liegt diese Vermutung nahe . . .

Ihr Unbehagen rührt daher, dass sie keine gleichen Rechte für alle wollen. Sie hätten gerne, dass ihre Ethnie oder Religion bevorzugt wird. Das provoziert oft Gewalt. Gerade um sie zu überwinden, ist der Liberalismus entstanden – nach Europas Religionskriegen im 17. Jahrhundert. Aber immer wieder heißt es – bis heute: Wir wollen eine stärkeres Gemeinschaftsgefühl, gegründet auf eine gemeinsame Kultur, Geschichte, Religion. Das ist gefährlich, weil es viele ausschließt. „Make America great again“: Damit imaginiert Trump eine Vergangenheit, in der fast alle weiße Christen waren. Das gibt es längst nicht mehr.

Viele waren schockiert über einen Mob, der das Kapitol stürmt. Droht in den USA ein antidemokratischer Staatsstreich?

Trump versuchte wissentlich, das Ergebnis der letzten Wahl umzustoßen, mit gewaltbereiten Anhängern. Er kam damit nicht durch. Aber viele Republikaner bringen sich in Stellung, um bei der nächsten Wahl dasselbe zu tun, indem sie Wähler einschüchtern. Das ist eine echte Bedrohung. Die Demokratie ist in Amerika in großen Schwierigkeiten, denn eine ihrer fundamentalen Merkmale ist der friedliche Machtwechsel.

Stehen die US-Republikaner überhaupt noch zur Demokratie?

Sogar die Leute, die das Kapitol stürmten, glaubten, dass sie damit die Demokratie und die Verfassung verteidigten – weil sie einer Lüge aufgesessen sind. Es gibt nicht viele, die mit der Demokratie prinzipiell gebrochen haben. Aber viele haben das Gefühl, den American Way of Life würde es unter der Führung der Demokraten nicht mehr geben, und das rechtfertige Gewalt und extreme, auch nicht demokratische Maßnahmen. Laut Umfragen würde ein relevanter Teil der Republikaner eher auf die Demokratie verzichten als auf einen Sieg ihrer Seite. Aber das gilt, wenn auch weniger ausgeprägt, ebenso für die Linken.

Welchen Rat würden Sie Parteien des rechten Spektrums geben?

Es ist völlig legitim und im Rahmen des demokratischen Konsenses, Einwanderung zu begrenzen auf ein Niveau, das eine erfolgreiche Integration ermöglicht. Ähnliches gilt für kulturelle Themen: Man kann die Werte der traditionellen Familie schützen und fördern, ohne denen, die nicht in dieses Raster passen, ihre Rechte zu nehmen.

Und welche Probleme haben die Linken mit der Vielfalt? Das erscheint ja weniger offensichtlich . . .

Die Linken wollen nur eine bestimmte Art von Vielfalt schützen. Bei ihrer Identitätspolitik geht es um Hautfarbe, Gender, sexuelle Orientierung. Um ideologische Vielfalt sorgen sie sich nicht. Sie zeigen wenig Toleranz gegenüber Menschen, die ihre Weltsicht nicht teilen. Zum Beispiel sehr religiöse Menschen, die gegen Abtreibung sind – eine solche politische Präferenz gehört für viele Linke nicht in eine Demokratie, das wollen sie einfach weghaben.

Schauen wir uns die theoretischen Wurzeln an, um das Unbehagen beider Seiten besser zu verstehen. Der Parade-Philosoph des modernen Liberalismus war John Rawls. Für ihn genügten Freiheitsrechte, ergänzt um eine faire Regel, die große soziale Ungleichheit vermeiden soll. Das fanden andere Philosophen von Grund auf falsch, in den USA vor allem die Kommunitaristen. Warum?

Der Kern des Liberalismus ist der Schutz der persönlichen Würde. Sie gründet darin, dass Menschen im Gegensatz zu Tieren eine moralische Wahlfreiheit haben. Was wir als Gut und Böse erkennen, wie wir danach handeln, ist eine autonome Entscheidung, die zu akzeptieren ist, solange es nicht auf Kosten der Freiheit und Ziele anderer geht. So wie man sich aussuchen darf, wen man heiratet, wo man lebt, welchen Beruf man ergreift. Zum Problem wird das, wenn Rawls und andere diese Autonomie zum absoluten Wert erheben: Es könne keine gemeinsame Moral mehr geben, keine geteilten Werte, jeder sucht sich seine Regeln selbst aus. Der Normbrecher, der ständig den sozialen Konsens verletzt, wird in seinem Tun geschützt. Die Kommunitaristen entgegnen: Das ist falsch, so wollen wir Menschen nicht leben. Denn jede funktionierende Gesellschaft beruhe auf bestimmten kulturellen und religiösen Traditionen. Nur sie könnten für ein Gemeinschaftsgefühl sorgen, das unser Zusammenleben stabilisiert.

Aber es gibt doch auch in unseren angeblich so zersplitterten Gesellschaften immer noch viele Feuerwehrleute, Vereine und Wohltätigkeitsveranstaltungen . . .

Das ist kein Widerspruch. Auch Leute wie Rawls sehen einen Plural von Subkulturen: Jeder sucht sich seine aus, folgt ihren Regeln und erlebt so noch Zusammengehörigkeit. Aber das Gerechte steht für diese Liberalen über dem Guten, weil es „das eine Gute“ für alle, die gemeinsame Moral oder Religion, nicht mehr geben könne. Und das ist vielen anderen zu wenig.

Und die Angriffe von links?

Viele sind einfach durch Ungeduld motiviert. Der Liberalismus verteidigt die Rechte aller, auch die von Reichen. Wer eine kräftige Umverteilung durch hohe Steuern will, tut sich oft schwer, genügend Leute davon zu überzeugen. Oder Klimaaktivisten: Sie fordern einen starken Staat, der die Erderwärmung rasch stoppt, ohne auf Mehrheiten zu warten und ohne rechtsstaatliche Rücksicht auf Unternehmen zu nehmen. Ein anderer Angriff ist in der USA sehr heftig: die Identitätspolitik, die eine Gesellschaft nicht als Ansammlung von Individuen versteht, sondern von Gruppen.

Welche Wurzeln hat diese Idee?

Sie kommt aus der kritischen Theorie: Liberale Gesellschaften seien gar nicht liberal. Ihre Bürger seien nicht frei, sie würden manipuliert. Für Marcuse standen kapitalistische Eliten dahinter. Das führte zur Kritik an der Globalisierung: Die sei nur scheinbar für alle gut, tatsächlich profitierten von ihr nur Banken und Konzerne. Bei Foucault ging es um Machtmechanismen, die angeblich auch die Wissenschaft beherrschen. Das hatte schon etwas von Verschwörungstheorie.

Oder logischem Widerspruch? Foucault war selbst ein mächtiger Wissenschaftler.

Dieses Problem hat jeder Relativismus: Es gibt bei diesem Denken keine stabile Welt, auf die man seine Überzeugungen stützen könnte. Jeder, der ihm anhängt, müsste sich fragen: Was sind die geheimen Kräfte, die meine eigenen Gedanken steuern? Warum sollte man ausgerechnet mir glauben?

Sie zitieren eine feministische Autorin, für die es eine männliche Physik gibt, die Festkörpermechanik, und eine weibliche, die Strömungsmechanik. Da fragt man sich: Was soll der Unsinn? Ob wir die reale Welt richtig oder falsch erfassen, hat doch nichts mit Gender-Themen zu tun. Was ist da schiefgelaufen?

Dass die Identitätspolitik absolut gesetzt wurde: Alles sei beeinflusst durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, es gebe keine objektive Realität. So wurde auch „kulturelle Aneignung“ zum Thema: Da wird Identität fälschlicherweise zur unveränderlichen Wesenseigenschaft erhoben. Dieser Aktivismus verstößt auch gegen die Redefreiheit.

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