Wort der Woche

Religiöse Vielfalt

Österreich ist schon lang kein katholisches Land mehr, meinen Forscher. Vielmehr blühe hierzulande eine große religiöse Vielfalt.

In den Augen vieler ist Österreich ein katholisches Land. Gewiss: katholische Werte, Riten und Regeln prägen vieles, was als typisch österreichisch gilt. Doch unbestritten ist diese Ansicht nicht. „Die jahrhundertealte Erzählung von Österreich als einem katholischen Land ist bereits im 16./17. Jahrhundert zunehmend fragwürdig geworden“, meinen die beiden Religionswissenschaftler Karsten Lehmann (KPH Wien/Krems) und Wolfram Reiss (Uni Wien). „Spätestens in der k. u. k. Monarchie kann man nachhaltige Pluralisierungsprozesse beobachten“, schreiben sie in dem von ihnen herausgegeben Buch „Religiöse Vielfalt in Österreich“ (564 S., Nomos, 50,40 €). Als Beispiele nennen sie den „Ausgleich“ mit Ungarn (protestantisch) oder die Annexion Bosnien-Herzegowinas (orthodox, muslimisch, jüdisch). Auch der „Ständestaat“ konnte keine neuerliche Monopolstellung des Katholizismus durchsetzen; dann setzte eine starke Säkularisierung ein, und die Zuwanderung stärkte andere Religionsgemeinschaften.

Religiöse Vielfalt blicke in Österreich auf eine lange Tradition zurück und sei gegenwärtig weit stärker ausgeprägt, als dies oftmals wahrgenommen werde, so die Forscher in der Einleitung. Der Beweis dafür wird in den folgenden Kapiteln geführt, in denen Fachleute knapp zwei Dutzend religiösen Traditionen nachspüren (inklusive agnostischen und atheistischen) und deren Einfluss auf die Gesellschaft beschreiben.

Zentral für Lehmanns und Reiss' Argumentation ist v. a. eine Rekonstruktion der religiösen Zusammensetzung der in Österreich lebenden Bevölkerung für das Jahr 2018. Denn: Die letzte Volkszählung, die sich mit Religion beschäftigte, fand 2001 statt – seither gibt es keine umfassende Statistik mehr. Für eine Aktualisierung der Zahlen haben drei Forscherinnen des Wittgenstein Center for Demography and Global Human Capital (ÖAW, IIASA, Uni Wien) Faktoren wie Migration, Fertilität und religiöse Konversionen bzw. Säkularisierung herangezogen. Es zeigen sich drei Trends: Erstens ist der Anteil der Katholiken 2018 auf 64 Prozent gesunken (2001: 74 %) – die Vormachtstellung des Katholizismus geht also weiter zurück. Zweitens ist der Anteil von Konfessionslosen von zwölf auf 17 Prozent gestiegen. Und drittens wuchs sowohl der Anteil von Orthodoxen (von 2,5 auf 4,7 %) als auch von Muslimen (von 4,0 auf 7,9 %) deutlich.

Alles in allem ist das ein eindrucksvoller Beleg für die „religiöse Verbuntung“ Österreichs, die der Religionssoziologe Paul Michael Zulehner vor einigen Jahren postuliert hat.

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Wissenschaftskommunikator am AIT.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.10.2022)

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