Redebedarf

Wie fühlt man sich denn "angesprochen"?

100 Rätsel der Kommunikation, Folge 13. Adrenalin für den Alltag: Von fremden Menschen auf dem Gehsteig angesprochen werden.

Können Sie sich erinnern? Da war mal eine Zeit, in der teilte sich die Menschheit in jene, die Fragen haben. Und in jene, die Antworten geben. Zu den Zweiteren sagte man auch „Ansprechpartner“. „Partner“ auch deshalb, weil man so etwas wie Augenhöhe suggerieren wollte. Oder zumindest „Augen“, die meist in der Nähe von Ohren liegen, die sich die Sache erst einmal in Ruhe anhören. Menschen also, die Informationen erhalten, verarbeiten, zuerst im Gehirn, dann auf dem Schreibtisch. Und im besten Fall darauf reagieren.

Diese „Ansprechpartner“ hat die Digitalisierung pulverisiert. Zu Sternenstaub. E-Mail-Adressen haben sie ersetzt. Und diese beginnen meistens mit „info@“, „office@“, „welcome@“ oder bei Presseanfragen auch in schlüssiger Weise „presse@“. Es sind ganz unterschiedliche Adressen, aber die Anfragen landen meist im selben Postkasten. „Nirvana“ steht da drauf. Aber man will ja nicht ungerecht sein. Es kommt schon vor, dass aus dem Nirvana ein Echo zurückhallt in diese, in unsere Welt. Aber meist sind die Signale so generalistisch, unspezifisch und anonym wie jene Adresse, an die man sich vertrauensvoll und hoffnungslos gewandt hat. Aber das ist man ja gewohnt von kosmischen Signalen.

Jemanden anzusprechen ist also gar nicht so einfach. Vor allem mangels einer Ansprechperson. Wenn man etwa frech durch den äußeren Kommunikationsschutzschirm eines Unternehmens hinein in den Kern klingelt, hört man meist am Telefon: Schreiben Sie ein E-Mail. Diese wird dann an der Sammelstelle für Etwaiges und Sonstiges in die Runde geworfen und lange herumgereicht. Bis einer doch aufzeigt, der gnadenhalber ein Auge oder Ohr darauf wirft.

Die einzige Uhr weit und breit

Früher war sogar noch die Straße der Ort, wo man sich Informationen holte. Die einzige Uhr weit und breit, sie stand auf der Straße. Inzwischen sind die öffentlichen Uhren rar, aber man könnte ja trotzdem auf dem Gehsteig Fragen stellen. Wie spät ist es, zum Beispiel. Oder nach dem nächstgelegenen Wirtshaus. Aber auch das wäre schon verdächtig. Der Große Google weiß ja alles. Man kann die anderen, die da auf dem Gehsteig herumlaufen, ruhig in ihren Blasen lassen. Wenn man rund um den Bahnhof Wien Mitte lang genug herumsteht, wird man höchstwahrscheinlich trotzdem angesprochen. Dabei geht es in den meisten Fällen um Finanzen. Einmal um die etwas kleineren spontanen Beträge, die man gerne teilt, mit jenen, die es wirklich brauchen. Oder um die größeren Beträge, die man ungern teilt mit jenen, die es fordern: „Wo geht’s hier zum Finanzamt?“, hört man da immer wieder. Das hat sich nämlich perfiderweise auf der Rückseite des Bürohaus-Shopping-Kolosses verschanzt.

Geht man von Wien-Mitte aus die Landstraße Hauptstraße aber entlang, dann kann man sicher sein, dass einen keiner mehr irgendetwas fragt. Aus gutem Grund. Google ist verlässlicher als die meisten Menschen. Man kann das etwa in Südamerika ausprobieren. Fragt man dort nach dem Weg, werden ihn 100 Prozent der Angesprochenen gerne beschreiben. Obwohl ihn nur 90 Prozent der Befragten wirklich kennen. Die Höflichkeit, gegenüber sich selbst vor allem, gebietet, sich nicht anmerken zu lassen, dass man überhaupt keine Ahnung. Und dann gibt es da noch ein heiteres Spiel. Das funktioniert auch in Europa, rund um Wien-Mitte zum Beispiel, auch bestens. Man geht einfach auf Touristen zu. Egal, ob sie sich gerade tatsächlich noch über Faltpläne beugen. Oder über kleine Displays. Man schleicht sich also an und fragt: „Can I help you?“ .

Dabei sollte man ein wenig so lächeln, dass es gleichzeitig freundlich und durchtrieben wirken kann. Herrlich, wie es viele Touristen dann durchzuckt. Das Ganze funktioniert aber auch mit allen anderen Menschen auf der Straße eigentlich. Um sie zu verwirren, musste man sich früher allerdings noch just verkleiden und verhaltensauffällig benehmen. Jetzt gilt es schon als verhaltensauffällig, überhaupt jemanden anzusprechen. 90 Prozent der Angesprochenen wünschen sich dann spontan eine anonyme „info@“-Mailadresse zu sein, die das alles gar nichts angeht. Jemanden unerwartet ansprechen und nach der Uhrzeit fragen. Das ist die Glöckerlpartie des digitalen Zeitalters. Das ist Alltagsadrenalin. Yeah.

100 Rätsel der Kommunikation

Norbert Philipp bespricht in dieser Kolumne die dringendsten Fragen der digitalen und analogen Kommunikation: Muss man zu Chatbots höflich sein? Wie schreit und schweigt man eigentlich digital? Heißt „Sorry“ dasselbe wie „Es tut mir leid“?. Und warum verrät „Smoke on the Water“ als Klingelton, dass ich über 50 bin.

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