Morgenglosse

Die andere Rechtsstaatskrise

Ein Justizminister, der sich an Richtern rächen will, die ihm einst als Anwalt im Weg standen; eine Regierung, die höchstgerichtliche Urteile nicht einmal ignoriert: Szenen aus Polen und Ungarn? Nein: aus Frankreich und Belgien.

Was ist ein Rechtsstaat? Ein Staat, der Recht schafft, an das sich alle halten müssen, die in ihm leben, und der zugleich seine eigenen Organe an das Recht bindet, wenn sie ihre staatliche Gewalt ausüben. Und was ist das Recht? Darüber befinden letzten Endes unabhängige Richter.

Eric Dupond-Moretti, Frankreichs Justizminister, steht nach Ansicht der ermittelnden Richter eines Spezialgerichts für Straftaten von Politikern in Ausübung ihres Amtes mit allen drei genannten Aspekten der Rechtsstaatlichkeit auf Kriegsfuß. Der bärbeißige vormalige Strafverteidiger mit Starallüren, Maserati und Villa über den Dächern von Nizza sowie besten Verbandelungen in die Entourage des Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy, muss sich wegen gleich zweier mutmaßlicher Fälle von Amtsmissbrauch zum persönlichen Vorteil vor Gericht rechtfertigen.

Im ersten Fall geht es um von ihm verfügte, schikanöse Disziplinarverfahren gegen drei Finanzstrafrichter, die einst detaillierte Rufnummernauswertungen der Handys von mehreren Strafverteidigern (einschließlich dessen von Dupond-Moretti) durchgeführt hatten, um herauszufinden, wer Sarkozy gewarnt hatte, dass sein Telefon im Zuge der Ermittlungen rund um die illegale Finanzierung seines Wahlkampfes im Jahr 2007 abgehört wird. Die Verfahren gegen die drei Richter brachten keinen Funken einer Dienstverfehlung zutage. Der zweite Fall dreht sich ebenfalls um ein manipulatives Disziplinarverfahren gegen einen ehemaligen Untersuchungsrichter, der einen vormaligen Klienten Dupond-Morettis angeklagt hatte - im Zuge von Ermittlungen gegen korrupte Polizisten und Justizbeamte im Umfeld des russischen Oligarchen Dmitri Rybolowlew, dem der Fußballklub AS Monaco gehört (Dupond-Moretti verwaltete einst auch eine Briefkastenfirma für Rybolowlew auf den Jungferninseln).

Dupond-Moretti ist der erste amtierende Justizminister Frankreichs, der sich auf diese Weise vor Gericht wiederfindet: ein trauriges Symbol für den Verschleiß der politischen Bewegung von Präsident Emmanuel Macron, der doch 2017 angetreten war, anders und sauberer zu regieren als seine linken und rechten Vorgänger.

Doch ein Justizminister, der die Richter so verachtet, wie es Dupond-Moretti tut: der ist auch für die EU ein Problem. Wie soll man den nationalautoritären Regierungen in Polen und Ungarn angesichts solcher Umstände in Paris rechtsstaatliche Redlichkeit predigen?

Zumal sich auch nebenan in Belgien diesbezügliche Abgründe auftun. Die Regierung des Königreichs wurde vorige Woche von einem Gericht in Brüssel dazu verurteilt, den vor einigen Jahren an die USA ausgelieferten islamistischen Terroristen Nizar Trabelsi zurückzuholen. Denn die Auslieferung an die Amerikaner war unter Vorspiegelung falscher rechtlicher Tatsachen erfolgt; Trabelsi hatte seine Haftstrafe für einen gescheiterten Anschlagsversuch auf einen belgischen Luftwaffenstützpunkt nämlich schon abgesessen. Darum gilt der Grundsatz „Ne bis in idem“, also das Verbot der doppelten Bestrafung für dieselbe Tat. Trabelsi sitzt dennoch in den USA in totaler Isolationshaft; seit vier Jahren hatte er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie, was man auch einem verurteilten Terroristen nicht wünschen möchte.

Doch der belgische Staat ignoriert dieses Urteil. Dasselbe tut er mit unzähligen Beschlüssen belgischer Gerichte in Asylsachen. Durchschnittlich sechsmal pro Tag wird der Staat gerichtlich verurteilt, weil er Asylwerbern kein Dach über dem Kopf und nichts zu Essen bereitstellt. Strafen von bis zu 5000 Euro pro Tag sind keine Seltenheit, doch die Bundesregierung ficht jeden Strafbeschluss an und schiebt das Problem und die politische Verantwortung vor sich hin. Derweilen schlafen mindestens 1000, vermutlich deutlich mehr obdachlose Asylwerber auf Brüssels Straßen. Cui bono?

Freilich sind diese Fälle aus Frankreich und Belgien dem Wesen nach völlig anders gelagert als jene Polens und Ungarns. Hier funktioniert die unabhängige Justiz noch so, wie es das Gesetz ohne Ansehung der Person vorschreibt, ihre Urteile werden allerdings von Politikern missachtet. Dort hingegen betreiben die polnischen und ungarischen Nationalautokraten justizpolitische Gleichschaltung.

Schön ist es trotzdem nicht anzuschauen, dass ein angeklagter Justizminister nicht die Klasse hat, von sich aus zurückzutreten. Und dass die Regierung eines reichen und liberalen Staates wie Belgien so schändlich mit strafrechtlichten Fundamentalprinzipien und der Menschenwürde von Asylwerbern umspringt. Und schön ist es auch nicht, wie sich die Europäische Kommission - diese „Hüterin der Verträge“ - vor ihrer Verantwortung wegduckt, die Rechtsstaatlichkeit auch in Frankreich und Belgien zu verteidigen. „Der Rechtsstaat ist eine Aufgabe für alle Mitgliedstaaten“, sagte eine Sprecherin von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Montag, als ich sie auf diese Fälle ansprach. Sie verwies auf die jährlichen Rechtsstaatsberichte, die allen Mitgliedstaaten ein diesbezügliches Zeugnis ausstellen. Tatsächlich? Kurz nachgeschaut: im Bericht Belgiens ist weder der Fall Trabelsi noch das Asylproblem erwähnt.

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