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Proust auf der Suche nach dem verlorenen Zwieback

Madeleines in Tee tauchen, und schon ist die Kindheit wieder im Kopf? Für eine echte Recherche erinnerte sich der geniale Autor viel zu vage.

Bücher sind zum Lesen da, nicht zum Zitieren. Aber Zitate dienen dem Prestige, und selbiges wird auch durch schwelgerisches Memorieren von Szenen aus literarischen Werken befördert. Solcherart ein intensives Leseerlebnis vorzutäuschen verfehlt seine Wirkung in bildungsbürgerlichen Kreisen nie. Aber Vorsicht: Der Effekt kann auch in einem Gähnen liegen, sollte die Assoziation zu abgedroschen sein. „Lasst alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr eintretet!“: Wie viele deklamieren instantan die Inschrift über dem Tor zur Hölle, wenn die „Göttliche Komödie“ zur Sprache kommt, und wie wenige von ihnen haben Dantes fetten Schinken wirklich gelesen!

„Das ist ein zu weites Feld“ geht immerhin als elegante Ausflucht durch, wenn uns ein Fontane-Fan in eine „Effie Briest“-Diskussion verwickeln will. Nicht mehr hören können wir aber den obligaten Seufzer, den unisono alle ausstoßen, sobald als Stichwort Marcel Proust fällt: „Ach, diese wunderbare Szene, wo er die Madeleines in den Lindenblütentee taucht, und der Geschmack lässt plötzlich die Erinnerung an seine Kindheit wieder aufleben! Haben wir das nicht alle schon einmal erlebt? Was war denn Ihr persönliches Madeleine-Erlebnis?“ Keine Ahnung, macht euch lieber endlich ehrlich: Die viel beschworene Szene steht im ersten von sieben Bänden der „Suche nach der verlorenen Zeit“, ungefähr auf Seite 60 von 3200, und nicht einmal so weit sind die meisten gekommen.

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