Landschaftsökologie

Mehrheit der Stadtbevölkerung wünscht sich mehr wilde Natur

Den meisten gefällt es, wenn die Natur wachsen darf, wie sie eben wächst.
Den meisten gefällt es, wenn die Natur wachsen darf, wie sie eben wächst.Brigitte Baldrian / picturedesk
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Ein Boku-Team um Brenda Zoderer erhebt, wo in Wien neue – für Mikroklima und Biodiversität wertvolle – naturbelassene Flächen geschaffen werden könnten. Ihre Forschungen geben Hinweise darauf, dass die Akzeptanz von urbaner Wildnis bislang unterschätzt wurde.

Stadtwildnis ist eines der verheißungsvollen Schlagwörter, wenn es darum geht, urbane Grünräume zu gestalten. Zumindest aufseiten der Landschaftsplanung. Auch für die Stadtverwaltung sind ungezähmte Naturflächen ein Segen: wenig Aufwand, wenig Kosten. Aber wie steht die Bevölkerung dazu? Die Politik vermutet eine geringe Akzeptanz wild wachsender Natur in der Stadt. Ob dem tatsächlich so ist, geht die Landschaftsökologin Brenda Zoderer von der Boku Wien mit ihrem Team in einem von der Stadt Wien und dem Umweltbundesamt geförderten Projekt nach.

„Natur, die der Mensch nicht pflegt, Flächen, die sich selbst überlassen sind und auf denen wächst, was eben wächst, sind sehr wertvoll für das Stadtklima und für die Biodiversität“, erklärt Zoderer. „Das kann zum Beispiel eine Industriebrache sein, ein Stadtwald oder eine naturbelassene Wiese in einem Park.“ Es handelt sich dabei um dynamische Ökosysteme, die – zumindest deuten bisherige Forschungen darauf hin – besser mit den Folgen des Klimawandels umgehen können als gepflegte und nach ästhetischen Prinzipien gestaltete Parks. Auch die Nutzungsmöglichkeiten unterscheiden sich. „Ich habe im Vorfeld der Studie viele dieser Flächen, auf denen sich die Natur spontan entwickeln kann, besucht“, sagt Zoderer. „Ich habe selbst gebaute Hütten gefunden und kleine Sitzgelegenheiten. Weil sich diese Orte oft abseits der gewohnten sozialen Kontrolle befinden, werden sie auch informeller genutzt. Manche Personen bauen starke Beziehungen zu der Natur dort auf und engagieren sich auch freiwillig dafür, indem sie etwa regelmäßig Müll einsammeln.“

Aus gepflegtem Rasen wird Naturwiese

800 Wienerinnen und Wiener quer durch alle sozialen Gruppen beteiligten sich an Zoderers Studie, die durch vertiefende Interviews ergänzt wurde. Nun liegen erste Tendenzen der Auswertung vor: Demnach sind Stadtwälder und Naturwiesen in Parks beliebter als Brachen. Letztere werden auch nur selten aufgesucht. Gegenüber Rasenflächen bevorzugt die Mehrheit der Befragten jedoch alle drei Arten von Stadtwildnis. Überraschend: „Wir dachten, dass diese Flächen oft negativ oder störend bewertet werden, weil sie verwahrlost und unordentlich wirken, dem scheint nicht so“, sagt Zoderer. Die negativen Aspekte werden zwar wahrgenommen, die positiven Effekte für Stadtklima und Artenvielfalt dürften allerdings für die Menschen ausschlaggebender sein. Zumindest würde eine deutliche Mehrheit eine Umwandlung der Hälfte einer gepflegten Rasenfläche in ihrer Nachbarschaft in wilde Natur akzeptieren.

Freilich gibt es auch jene, die angeben, aktiv, etwa durch Protestaktionen oder Unterschriften-Sammeln, Widerstand zu leisten. Gerade bei jungen Erwachsenen stoßen urbane wilde Naturflächen auf weniger Akzeptanz als bei anderen sozialen Gruppen. „Eine Stadtwildnis kann für manche Gegenden eine gute Lösung sein, für andere, wo es bereits ein Konfliktpotenzial zwischen bestimmten sozialen Gruppen gibt, ist diese Form der Grünraumgestaltung aber möglicherweise kontraproduktiv.“ Die Gründe für die Abneigung gegen die spontane Stadtnatur sind wenig erforscht. Für manche stellen Wildnis-Flächen eventuell Angsträume dar, vermutet Zoderer.

Grünraum ist ungleich verteilt

In einem nächsten Schritt macht sie sich mit ihrem Team nun erst einmal daran, die bestehenden wilden Naturflächen Wiens geografisch zu verorten: „Wir wissen, dass der Grünraum nicht gerecht über das Stadtgebiet verteilt ist. Darum möchten wir mithilfe von Satellitendaten eine Karte der Stadtwildnisflächen erstellen, um zu zeigen, wo es wie viel davon gibt.“ Die Ergebnisse sollen dann mit den Bedürfnissen der jeweiligen Wohnbevölkerung verglichen werden: „So können wir lokalisieren, ob das Angebot an Stadtwildnis mit der Nachfrage übereinstimmt, um Handlungsempfehlungen an die Stadtverwaltung abzugeben.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.10.2022)

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