Geschmacksfrage

Testessen im Weitsicht Cobenzl

 Es gibt kein schöneres Aussichtslokal in dieser Stadt.
Es gibt kein schöneres Aussichtslokal in dieser Stadt.Christine Pichler
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Herr Brenner findet das vielleicht schönste Lokal von Wien, isst gebackene Steinpilze bis zum Abwinken und ist streng zu Wien Döbling.

Ausflugslokale sind die hässlichen Entlein der gastronomischen Welt: Parkplatz suchen, reservieren sicher nicht, sich notfalls um einen Tisch prügeln, Jacke über den Sessel, fetten Kuchen bestellen, kurz über die Preise ärgern, beim Trinkgeld ­sparen, sich lang über die unzufriedenen Kinder oder Großeltern ärgern und wieder Parkplatz. Hauptsache, schnell rein-raus. Es ginge doch ganz anders. Im Konjunktiv. Das alte Cobenzl war zu manchen Zeiten ein solch grimmiger Ort, heruntergewirt­schaftet war eine Untertreibung, nur der ­Ausblick versöhnte mit allem. Jahrelange absurde Rechtsstreitigkeiten gegen den alten Betreiber, viele Gehversuche der ­Verantwortlichen der Stadt Wien und ­zahl­reiche Gastronomen mit lustigen Ideen führten nun tatsächlich zu einem echten Neuanfang. Oder anders formuliert: Bernd Schlacher hat einen echten Lauf.

Der Mann führt mit seinem Unternehmen bekanntlich mehrere Adressen der Stadt, sein Hotelrestaurant Chez Bernard hat es innerhalb kurzer Zeit geschafft, zum Hotspot der Hipster-Bezirke zu werden – und zum beliebten Dating-Lokal für die in Würde oder nicht ergraute 40-plus-Szene, die das Fabios meidet. Am Cobenzl ist Schlacher – oder besser: seinen Architekten vom Berliner Büro Realarchitektur und mostlikely architecture aus Wien – ein ­wahrer Geniestreich gelungen. Es gibt kein schöneres Aussichtslokal in dieser Stadt, man wähnt sich in L. A., Helsinki, Kopenhagen oder einer anderen Stadt, in der Design und Architektur den Stellenwert haben, den bei uns klassische Musik und/oder Bälle erreichen. Die Gestaltung in zugegebenermaßen allseits gefälligem Midcentury-Style, wie wir die 50er und frühen 60er neuerdings nennen, hat voll funktioniert. Damit das nicht zu spießig wirkt, wurden unterhaltsame Kunstwerke ­installiert, Fotografien, die mit der heiligen Familie der Wirtschaftsaufschwungsära brechen, da fehlt einem braven Familien­vater schon einmal der Kopf.

Die kleine Soft-Opening-Karte bietet auch Klassiker.
Die kleine Soft-Opening-Karte bietet auch Klassiker.Christine Pichler

Wenn man sich an allen Details satt gesehen und über die Rückkehr der Topfpflanze unterhalten hat, bestellt man von der noch kleinen Soft-Opening-Karte einfach die Klassiker: wunderbar krachende und intensiv schmeckende gebackene Steinpilze. Darauf legen wir ein Wiener Schnitzel, das fluffige Panier bieten kann. Das Flanksteak braucht viel Chimichurri und Senf, obwohl geschmacklich tadellos.

Die Karte soll noch größer werden, ich brauche das gar nicht: Mit Fisch und Chips sowie dem Szegediner kommt man durch jedes späte Date. Unter der Woche wäre meine zeitliche Empfehlung für einen Besuch, Sonntagnachmittage sollte man vorerst meiden, ohne Reservierung geht nichts. Das ist meine dezente Botschaft an Wien Döbling und Co.: Das alte Ausflugslokal (siehe oben) ist tot, es lebe ein zeitgemäßes Restaurant mit Ausblick. Denken Sie nicht einmal daran, es ohne Reservierung zu versuchen. Das ist kein verdammter Heuriger.

Infos

Weitsicht Cobenzl, Am Cobenzl 96, 1190 Wien
Tel.: +43/(0)681 10 20 10,
Restaurant: Mo–Do: ­11.30–22, Fr–So 8.30–22 Uhr.

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("Die Presse Schaufenster" vom 21.10.2022)

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