Landestheater Niederösterreich

Kultur muss brennen in Canettis Kopf-Welt

Tolldreister Canetti-Exzess: (von links) Laura Laufenberg, Tim Breyvogel und Julia Kreusch.
Tolldreister Canetti-Exzess: (von links) Laura Laufenberg, Tim Breyvogel und Julia Kreusch. [ Johannes Hammel]
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Paulus Hochgatterer hat den Roman „Die Blendung“ dramatisiert, Nikolaus Habjan hat das Stück inszeniert. Mit sechs Darstellern in einem Dutzend Rollen gelingt eine furiose Aufführung mit lässlichen Sünden.

Zur hohen Kunst des Theaters zählt die freche kulturelle Aneignung, die dann auf der Bühne wie mühelos erscheint. Zum Beispiel, wenn der Sinologe Peter Kien auftritt, der in den Irrsinn getriebene Protagonist in Elias Canettis 1931 vollendetem Monsterroman „Die Blendung“. Er hat die typische schiefe Haltung eines Dauerlesers und die Reserviertheit eines Gelehrten, der nur dann rabiat wird, wenn es um seine geliebten Bücher geht. Keine Sekunde denkt man bei der Aufführung im Landestheater Niederösterreich daran, dass hinter diesem blassen Typ im Tweedanzug die deutsche Schauspielerin Bettina Kerl steckt.

Brille und Perückenmähne lassen an Literaturnobelpreisträger Canetti denken, diesen Weltbürger einer jüdischen Familie aus der Habsburger-Monarchie. Er wurde im heutigen Bulgarien geboren, wuchs in Zürich und Wien (wo er seinen Roman publizierte) auf. Schließlich war er für Jahrzehnte in London im Exil. Kerl aber ist in jeder Phase ihres Spiels vor allem ein versponnener Herr mittleren Alters namens Kien.

Das Brutale im angeblich Gemütlichen

Oder nehmen wir die lebensgroße, graublaue Puppe mit dem fürchterlich deformierten Gesicht und dem gewaltigen Wanst unterm schmutzigen Feinrippleiberl, hinter dem gleich zwei Darsteller stecken. Einer trägt sie offenbar, und die Wiener Puppenspielerin Manuela Linshalm verleiht ihr mittels perfekt einstudierter Bewegungen unheimliches Eigenleben. In tiefem Vorstadtslang wird sie zum Unmenschen. Ja, das ist Benedikt Pfaff, der brutale Ex-Kieberer, der nun als Hausmeister tief unter Kiens Wohnung sein Unwesen treibt. Er ist das Brutale im angeblich gemütlichen Österreichischen. Gegenüber Obrigkeiten verfällt er blitzartig in Unterwürfigkeit. Die Frau hat er erschlagen, die Tochter missbraucht und in den Tod getrieben. Von Kien kriegt er sozusagen Schutzgeld. Seine Hobbys: Bettler verprügeln und durch ein Guckloch spionieren.

Was er mit dessen ebenfalls raffgieriger Frau Therese anstellt, der Ex-Haushälterin, soll nicht verraten werden. Nur eins: Die Hamburgerin Julia Kreusch macht daraus eine archetypische Kunstfigur fern von Hietzing. Wer die vom Psychiater Paulus Hochgatterer dramatisierte, von Nikolaus Habjan inszenierte Fassung von „Die Blendung“ in Sankt Pölten sieht und danach den Roman wieder liest, wird das Gefühl haben, dass ihm Therese Krumbholz alias Julia Kreusch keppelnd über die Schulter schaut. Ja, das kann impliziten Lesern passieren, die sich in Kiens absurde Kopf-Bibliothek begeben!

Sechs Darsteller schaffen es tatsächlich, in einem Dutzend Rollen (vier von ihnen zudem noch als Erzähler) die surreale Welt dieses dickleibigen Romans plastisch zu gestalten. Hochgatterer hat die Essenz extrahiert. Nur 140 Minuten (inklusive Pause) dauert die Inszenierung, in der Habjan kluger Weise mit dem Puppenspiel sparsam umgeht, dafür umso mehr auf Slapstick wie auch Feinheiten des Ensembles baut.

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