Wort der Woche

Bankenzentrum

Man glaubt es kaum, aber Wien war einst ein Bankenzentrum ersten Ranges. Die prachtvollen Gebäude sind allesamt erhalten – und dank Kunsthistorikern auch auffindbar.

Jedes Mal, wenn ich durch die Bankgasse in der Wiener Innenstadt ging, fragte ich mich, wie dieses Gässchen wohl zu seinem Namen gekommen war. Denn dort ist weit und breit keine Bank zu sehen. Nun, seit die beiden Kunsthistorikerinnen Ingrid Holzschuh und Sabine Plakolm-Forsthuber (Uni Wien, TU Wien) das Buch „Wiener Wall Street“ (176 Seiten, Studien-Verlag, 24,95 €) herausgegeben haben, weiß ich es: An der Ecke Bankgasse/Herrengasse wurde vor fast genau 200 Jahren die „Privilegierte oesterreichische National-Bank“ gegründet – als Zentralinstitution zur Ausgabe wertgesicherter Banknoten, wie dies beim Wiener Kongress beschlossen worden war. Dieses Gebäude, das heute Büros und ein Kulturzentrum beherbergt, wurde in den folgenden Jahrzehnten zum Nukleus einer (im wahrsten Sinn des Wortes) reichen Wiener Bankenszene mit zahlreichen imposanten Bankgebäuden in diesem Stadtviertel.

Es klingt heute beinah unglaublich – aber im 19. Jahrhundert war Wien tatsächlich ein Finanzzentrum ersten Ranges. Wie man in der überarbeiteten Neuauflage von Roman Sandgrubers „Reich sein“ (352 S., Molden, 39 €) erfährt, hat es 1910 in Wien rund 230 Banken und Bankiers gegeben, davon 21 Aktienbanken und 192 Privatbanken. Darunter finden sich bis heute klingende Namen wie etwa Lieben, Ephrussi, Gutmann oder Schoeller, aber auch viele vergessene wie Reitzers, Thorsch, Epstein oder Rosenfeld. Interessantes Detail: Nur vier der 82 Wiener Bankmillionäre des Jahres 1910 waren nicht jüdisch. Die reichsten unter allen waren die Rothschilds – Albert Freiherr von Rothschild versteuerte mehr Einkommen als die fast 100 Wiener Einkommensmillionäre aus altem Adel zusammen.

Das ehemalige Bankhaus Rothschild in der Renngasse ist übrigens eines der wenigen Bankgebäude, die auch heute noch ihrem ursprünglichen Zweck dienen. Die allermeisten der prunkvollen Finanztempel wurden indes, nach dem Bedeutungsverlust Wiens als Hauptstadt eines Kleinstaats, anderen Nutzungen zugeführt. Dies reicht von Ausstellungshallen (Credit-Anstalt, Postsparkasse) über Theater (Landwirtschaftliche Produktenbörse) und Luxushotels (NÖ Escompte-Gesellschaft, Živnostenská banka) bis hin zu Büros, Geschäften und sogar Supermärkten (Allgemeine Depositenbank, Wiener Bank-Verein). Man mag über solch profane Nutzung dieser Architekturperlen die Nase rümpfen – aber auf diese Weise sind sie wenigstens erhalten und für die Allgemeinheit zugänglich.

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Wissenschaftskommunikator am AIT.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.10.2022)

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