Die Ich-Pleite

Memento mori vor der eigenen Haustür

Carolina Frank
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Der Zentralfriedhof ist zu mir gefahren. Rechtzeitig zum Beginn der Novemberdepression.

Es macht mir überhaupt nichts aus, dass seit ein paar Wochen ein ­Leichenwagen unter meinem Fenster parkt. Sicher, im ersten Moment erschrickt man. Es wird doch niemand von den netten Pensionisten im Haus...? Aber glücklicherweise nicht. Nur ein neuer Nachbar, der offenbar Bestatter ist. Lieber wäre mir zwar, er hätte sich einen Tiefgaragenplatz für seinen Berufswagen geleistet. Aber so schlimm ist es auch wieder nicht, bei jedem Weggehen und Heimkommen an den Tod zu denken. Früher lebten die Menschen ja auch mit dem Tod Tür an Tür. Klapprige Sensenmänner an jeder Hausecke, arme Sünder in jeder Stube, das Höllenfeuer in jedem Schlafzimmer.

Heute muss man für ein Memento mori zum Zentralfriedhof fahren. So gesehen ist es natürlich praktisch, dass der Zentralfriedhof zu mir gefahren ist. „Der Tod, das muss ein Wiener sein.“ Dieses Lied habe ich bisher sowieso nie verstanden. Ich bin ja nur Sekundär-Wienerin. Die Novemberdepression war eigentlich nur eine kulturelle Aneignung. Ohne das Bestattungsauto wäre ich heuer in Gefahr gewesen, einfach fröhlich ­weiterzuleben. Der Oktober war ja golden. Da hat sogar das Bestattungsauto manchmal ein bisschen optimistisch in der Sonne geglänzt.

Das wird jetzt allerdings bald vorbei sein. Jetzt wird es nur noch düster aus dem Nebel glimmen. Am Wochenende wurde auf Winterzeit umgestellt. Und in ein paar Wochen werden die Tage so kurz sein, dass wir ihn gar nicht mehr bemerken. Aber das macht nichts. Das Leben ist kein Kindergeburtstag. Und immer dieses Helle und Sonnige – das könnte man ja auf Dauer gar nicht mehr schätzen ohne das Dunkle und Deprimierende. Deshalb finde ich es ja so schade, dass das Bestattungsauto vor ein paar Tagen zwei Gassen weitergezogen ist.

("Die Presse Schaufenster" vom 28.10.2022)

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