Grätzeltour

Was die Leopoldstadt erzählt

Weigel vor dem Café Einfahrt am Karmelitermarkt.
Weigel vor dem Café Einfahrt am Karmelitermarkt.(c) Christopher Dickie
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Mit Schauspieler und Regisseur Ernst Kurt Weigel durch den zweiten Bezirks zwischen Karmelitermarkt und Donaukanal.

Wer je im Café Einfahrt in der nebeltrüben Oktobersonne bei der dritten koffeinfreien Melange gesessen ist, ist erstens wohl nicht mehr ganz superjung, und zweitens an einem sehr geschichtsträchtigen Ort: dem Karmelitermarkt. Trinkt man die koffeinfreien Melangen mit Theatermacher Ernst Kurt Weigel, wird die Geschichte durch seine Geschichten schnell ganz nah. Zwischen den neuen Marktständen, dem Gewusel und dem Trubel meint man fast die Elenden zu sehen, die im 1673 gebauten „Zucht- und Arbeitshaus“ lebten, das bis 1888 den Platz beherrschte.

Karmelitermakrt: Hier stand bis 1888 das Wiener Zuchthaus, die Leopoldgasse hieß Zuchthausgasse.
Karmelitermakrt: Hier stand bis 1888 das Wiener Zuchthaus, die Leopoldgasse hieß Zuchthausgasse.(c) Christopher Dickie

Wenn man genau hinhört, kann man vielleicht auch die Wellen der Donau vernehmen, die bis um 1600 bis zur Leopoldgasse hin plätscherten. Ein Teil des Martkes war damals noch eine Insel, der „Untere Werd".
An anderes, wie die Pogrome der Neu- und der NS-Zeit, mag man nicht denken. „Muss man auch nicht, man spürt die Geschichte so oder so. Die Stimmung hier ist besonders vielschichtig“, meint der Regisseur, Schauspieler und Gründer von das.bernhard.ensemble, der seit ein paar Jahren gleich ums Eck in der Tandelmarktgasse wohnt. Aufgewachsen im Süden von Wien, zog es ihn nach seiner Scheidung „an den tiefsten Punkt von Wien“, das habe ihm damals sofort gefallen, schmunzelt er.

Urbane Freiheit am Kanal

Das Auto habe er auch gleich in Hietzing stehen gelassen, und ist seither viel zu Fuß unterwegs, und wenn es flach ist, mit dem Rad: Prater, Donauinsel, Donaukanal. „Da weht immer ein Lüftchen, herrlich im Sommer.“ Früher auch „Wiener Wasser“ genannt, wurde der Donaukanal um 1600 erstmals reguliert, Sommerbäder und Fischmarkt belebten das Areal bis zum 2. Weltkrieg. Ab Ende der 1990er-Jahre wurde es mit Lokalen und Konzerten wieder zu einem beliebten Treffpunkt. „Graffitis, der Wind, das Wasser, es ist ein Stück Freiheit mitten in der Stadt.“ Hier könne man besonders gut relaxen, den Kopf auslüften, neue Ideen schöpfen. „In Wien erhole ich mich am besten“, meint er „Obwohl andere alte Städte natürlich auch extrem cool sein können."

Weigel performt am Donaukanal.
Weigel performt am Donaukanal.(c) Christopher Dickie

„Die Städte erzählen so viel, ich glaube das strahlt auf uns aus, positives wie negatives, eine Reflexion von Menschen die da leben und vorbeigehen, das macht die Stadt lebendig.“ Oder ist es das Wissen über die Geschichte, die Melange der Eindrücke, Erinnerungen und Stimmungen, die das suggerieren? „Es überlagert sich, je mehr man weiß, umso mehr nimmt man wahr.“ Etwa am Ludwig-Hirsch-Platz, bei der Stadtschrift Mauerschau, einem Freilichtmuseum aus Neonschriften aufgelassener Lokale und Unternehmen. So prangt nun das „Tabak“ der 2019 geschlossenen Trafik in der Karmelitergasse 1 ebenso an der Feuermauer wie das „Metalle“ des ehemaligen Eisenwarengeschäfts Blasser in der Taborstraße 35 (www.stadtschrift.at).

Die Mauerschau am Ludwig-Hirsch-Platz.
Die Mauerschau am Ludwig-Hirsch-Platz.(c) Christopher Dickie

So bleibt Stadtgeschichte im öffentlichen Raum bestehen. Das trifft auch auf die zahlreichen Stolpersteine und den Weg der Erinnerung zu, etwa am Haus Kleine Sperlgasse 2a, die an die deportierten und ermordeten Bewohner des Grätzels erinnern. „Wenn ich auf den alten Kachelofen in meiner Wohnung schaue, denke ich oft, wer den wohl alles, mit welchen Gedanken, Ängsten und Hoffnungen, schon angesehen hat.“

Gedenktafel am Karmelitermarkt.
Gedenktafel am Karmelitermarkt.(c) Christopher Dickie

Respekt vor der Schönheit

Die kulturelle Historie – Johann Strauß wohnte und wirkte hier ebenso wie Johann Nestroy am Carltheater, um nur zwei Klassiker zu nennen – sind für das Flair ebenso wichtig wie Zeitgenössisches. „Ich bin nicht so der große Ausgeher, am Theater ist man ja doch meist hinter oder vor der Bar, das genügt“, meint er zur Lokalszene. „Ich geh gern ins Museum, gern in eine Aida, die ganz fancy Lokale sind nix für mich, da bin ich zu alt oder zu wienerisch.“ Das gelte auch für Gebäude, Priorität: Gründerzeit. „Ein schönes Gebäude respektiert man“, meint er. „Außer man ist schon ganz verroht. Wenn der Vandale durch die Stadt geht, wird ihn eine hübsche Fassade nicht bekehren. Aber im Alltag beeinflusst uns die Umgebung schon ihm Umgang mit ihr.“
Übrigens nicht nur beim Spaziergang durch die Leopoldstadt ein Thema - auch sein nächstes Stück wird sich mit der Wirkung von Räumen und Plätzen beschäftigen. Man darf gespannt sein, was es erzählen wird.

Zum Ort, zur Person

Der zweite Bezirk entstand aus Donau-Inseln, etwa dem „Unteren Werd“ im Bereich des Karmelitermarktes. 1624 wurde dort das erste jüdische Ghetto gegründet, heute ist der Markt beliebter Treffpunkt. Eigentumswohnungen kosten durchschnittlich 5985 (Bestand) bis 8629 Euro/m2 (neu).


Ernst Kurt Weigel leitet das.bernhard.ensemble und Das Off Theater in Wien und ist als Schauspieler und Regisseur tätig.

Tipp: Am 4. November feiert das Stück Jeder.Now, ein Mashup nach Hugo von Hofmannsthals “Jedermann“ und Francis Ford Coppolas “Apocalypse Now”, Premiere. Im Theaterformat Mashup werden internationale Kultfilme mit österreichischen Theaterklassikern dramaturgisch verwoben. Spielzeit bis 10. Dezember. www.off-theater.at


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