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Lissabon: Einmal Schuhe bürsten in der Baixa

Glaub mir, dir wurden noch nie so die Schuhbänder gebunden.
Glaub mir, dir wurden noch nie so die Schuhbänder gebunden.Arnold
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Wo ich denn meine Schuhe schon wieder getragen hätte? Solche Schuhe sollten ein Leben lang halten! Aber wenn man so viel in anderen Städten damit umhergeht wie ich, werden sie natürlich kaputt, sagt mir Jorge, der Schuhputzer in Lissabon. Ein Porträt.

Es gibt in Lissabon diesen Moment, am kühlen Morgen eines heißen Werktags, wenn die letzten Reste der Nacht noch in den Schluchten der Unterstadt hängen und von müden Straßenkehrern entfernt werden. Kellner stellen Stühle raus. Menschen müssen irgendwohin. Sie eilen durch schöne Parks und über weiße Plätze, Boulevards, trinken einen Kaffee, bevor sich die endlose Kette der Ereignisse in Gang setzt und sowieso alle zu spät kommen lässt. Es muss schön sein, einen Grund zu haben, um diese Zeit durch diesen Teil der Stadt zu gehen, dachte ich immer, aber es gab kaum einen, und niemand, den ich kannte, arbeitete da. Kein Weg führte daran vorbei, und keine Lokale, in die wir gingen, oder sonst irgendwer, schon gar nicht zu dieser Zeit. Nur frühe Frauen, die in Bügelfaltenhosen vor geschäftigen Hintergründen sitzen und mit anderen frühen Frauen was Eiliges zu besprechen haben. Ihr Parfüm noch dicht und ungeatmet. Männer in frischen Anzügen sehen ihnen nach. Die Touristen schlafen. Frieden. Diese Stunde gehört der Stadt. Und sie gehört Jorge, dem Schuhputzer.

Es gibt noch so eine Stunde am späten Nachmittag. Wenn alle gefaltet von der Arbeit kommen. Wenn der Morgen seine Versprechungen nicht über den Tag halten konnte. Die Leute sind nicht in Gedanken, nur noch in Stoffschuhen am Telefon. Es kommen wenige. Früher wären sie am Rossio über 40 Engraxadores gewesen. Die Leute standen Schlange. Das war in einer Zeit, als die Männer noch Hüte trugen und Lissabon das Küssen auf den Straßen nicht konnte und man Frauen nicht nachpfiff, sondern schon von Weitem anfing zu pfeifen, weil es sich nicht schickte, eine Dame auf offener Straße anzuhalten. Nicht wie die Drogenverkäufer und Teppichhändler heute und Kellner der schlechten Restaurants.

Heute gibt es in der Unterstadt noch vier Schuhputzer, wobei, drei – der eine hat sich das Hirn weggesoffen und zählt nicht, meint Jorge. Über den Tag kommt vielleicht eine Hand voll Kunden oder weniger. Mit vielen von ihnen verbindet Jorge eine lebenslange Geschäftsbeziehung. Sie kamen zu ihm als junge, ehrgeizige Männer, mit neuen Oxfords, erfolgreich, verheiratet, und sie kamen frisch geschieden, als gebrochene Männer, in Derbys, die nie wieder auferstanden. Was mit den anderen Schuhputzern ist? Ach, die wären gegangen. Jorge meint damit, dass die tot sind, aber er sagt es so, als ob nur die Zeit vergeht und sie schon früher wegmussten. Wenn man mit ihm spricht, spürt man die Endlichkeit sehr. Man spürt, dass das Leben nun mal so ist und irgendwann nicht mehr und er eben Schuhputzer war, und was einer war, ist egal, sind wir doch alle aus einem Wesen. Außer Leute, die mit Mietspekulationen Geld verdienen, die sind aus was anderem, sollen zur Hölle fahren, meint Jorge.


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