Quergeschrieben

Für welche Freiheit lohnt es sich zu sterben?

Ukrainische und russische Ehemänner, Väter, Söhne opfern ihr Leben auf dem Schlachtfeld. Nationalismen feiern ein Revival, Pazifismus wird belächelt.

Dieser Tage fällt mir oft mein vor Jahrzehnten verstorbener Großvater ein. Er beneide mich nicht um meine Zukunft, sagte er oft. Er hatte den Ersten und den Zweiten Weltkrieg erlebt und war überzeugt, dass es einen dritten Weltkrieg auf europäischem Boden geben würde, verheerender als alle kriegerischen Auseinandersetzungen davor. Mit dem Zerfall der UdSSR zerbröselte auch das Gleichgewicht des Schreckens, er fürchtete einen Atomkrieg. Aber ich lachte ihn aus: „Ach, Großväterchen! Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin!“ Vor allem mit der Parole „Lieber rot als tot“, mit der die Nazi-Propaganda („Lieber tot als rot“) ins Gegenteil verkehrt wurde (und mit der Anselm Kiefer 1997 eines seiner Kunstwerke betitelte, das dann 2021 um mehr als hunderttausend Pfund bei Sotheby's in London versteigert wurde), konnte ich meinen Großvater blitzschnell auf die Palme bringen. „Du wirst schon sehen“, sagte er dann, „und an mich denken.“

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Heute? Denke ich tatsächlich an seine düsteren Prognosen. Denn Europa befindet sich im Vorhof zur Kriegshölle. In seltener Eintracht werden auch in Österreich quer durch alle politischen Lager die Erhöhung des Heeresbudgets und militärische Aufrüstung begrüßt, die Neutralität wird infrage gestellt. Auf in den Kampf! „Krieg wird zu etwas, was im Bereich des Möglichen liegt“, wie die Philosophin Isolde Charim im „Falter“ konstatiert. Vor unserer Haustür werden Menschen aus ihren Wohnungen und Häusern gebombt, müssen ukrainische und russische Ehemänner, Väter, Söhne ihr Leben auf dem Schlachtfeld opfern. Für Volk und Vaterland. Nationalismen feiern ein Revival, Berta von Suttners Friedensruf „Die Waffen nieder!“ wird milde belächelt. Wladimir Putin droht mit dem Einsatz von Atomwaffen. Knapp sieben Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine hat er eine Teilmobilmachung der Streitkräfte angeordnet; Wolodymyr Selenskij hat dies bereits unmittelbar nach der russischen Invasion in der Ukraine getan, männliche Staatsbürger zwischen 18 und 60 Jahren durften die Ukraine nicht mehr verlassen. Im Westen bekämpfen einander Waffenlieferungsbefürworter und Pazifisten mit bösen Worten. 85.000 Menschen aus der Ukraine – vornehmlich Frauen und Kinder – sind in den letzten acht Monaten seit Ausbruch des Kriegs nach Österreich geflüchtet, zwei Drittel davon befinden sich in staatlicher Grundversorgung. Trotz erleichterten Zugangs zum Arbeitsmarkt sind aber erst rund 7000 Kriegsflüchtlinge in Beschäftigung. Laut einer Studie des Meinungsforschers Peter Hajek hätten im April noch 72 Prozent der österreichischen Bevölkerung die Aufnahme weiterer ukrainischer Kriegsflüchtlinge befürwortet, nun seien es nur mehr 58 Prozent; gleichzeitig habe sich die Anzahl jener, die gegen eine Aufnahme sind, mehr als verdoppelt. Offenbar sinkt in Zeiten galoppierender Inflation die Solidarität in dem Maße, in dem die Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg steigt.

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