Ungarn und die Verwirrung nationaler Gefühle

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Interventionen in den internen Angelegenheiten Ungarns sind kontraproduktiv wie einst die Sanktionen gegen Österreich. Wegschauen ist aber nicht die Alternative.

Leitartikel

Welch ein Zwiespalt: In der diesjährigen europäischen Kulturhauptstadt Pécs präsentiert sich Ungarn als offenes Land, das die Kulturen der Nachbarländer wertschätzt. Gleichzeitig frönt die Regierung unter Viktor Orbán einem neuen, ziemlich engstirnigen und letztlich sogar autoritären Nationalismus. Ohne jeden Sinn propagiert sie trotz offener europäischer Grenzen ein Ungarn, das von seiner alten geografischen Ausbreitung träumt. Anstelle des gesunden Stolzes auf eine faszinierende Heimat werden Gefühle bedient, die eine absurde Selbstgefälligkeit fördern. Und wer dabei nicht mitmachen will, wer sich gegen diesen neuen „Aufbruch“ stellt, wird als Feind gebrandmarkt, gegen den werden präventive Gesetze – wie etwa das neue Mediengesetz – geschaffen.

Ungarn ist nach den großen und kleinen politischen Umbrüchen der letzten beiden Jahrzehnte – nach einem Hin und Her zwischen Kommunismus, Nationalismus und Sozialismus – auf seinem Weg offensichtlich noch immer nicht der Pubertät einer jungen Demokratie entwachsen. Die Wirtschaftskrise hat die Suche nach einer gefestigten Identität verlängert. Viktor Orbán, der einst liberale Politiker, spielt angesichts einer erstarkten rechtsradikalen Partei heute nationalistische Töne. Eine Zweidrittelmehrheit im Parlament eröffnet ihm dabei einen gefährlichen Machtspielraum. Den nutzt er nicht nur dafür, aus Ungarn einen modernen, konkurrenzfähigen Staat zu machen. Orbán versucht auch, die demokratischen Kontrollinstanzen auszuhebeln – vom Verfassungsgericht über die Notenbank bis zu den freien Medien.

Aber das System Orbán ist nur eine Folge vorangegangener Fehlentwicklungen unter sozialdemokratischer Führung. Und es wird auch nicht das Ende der ungarischen Entwicklung sein. Deshalb ist es derzeit kontraproduktiv, wenn europäische Politiker wie der Luxemburger Außenminister Jean Asselborn unzulässige Vergleiche mit dem diktatorischen Regime in Weißrussland ziehen. Noch dümmer ist es, sich zu wünschen, dass dieses Land mit 1.Jänner nicht die EU-Präsidentschaft übernimmt. Denn der EU-Vorsitz ist eine große Chance und ein wunderbarer Wink des Schicksals.

Mitten in der Verwirrung der Gefühle kann es Ungarn nur guttun, wenn die politische Führung eine neue, internationale Aufgabe erhält, die außerdem dazu beitragen kann, dieses Land aus seiner nationalistischen Kleinkrämerei herauszuholen. Sanktionsdrohungen, Maßnahmen wie einst gegen Österreich, die zu einer Abqualifizierung eines ganzen Landes beitragen, hätten hingegen nur eines zur Folge: die Einigelung eines EU-Mitgliedstaates in eine gefährliche innere Emigration. Sie wären Wasser auf die Mühlen jener Politiker, die ihre Machtposition aus der Abgrenzung gegenüber dem Ausland nähren.

Die Europäische Union hat eine tschechische Präsidentschaft überstanden, als dort innenpolitische Grabenkämpfe ausbrachen, sie hat eine belgische Präsidentschaft überstanden, als dort eine latente Regierungskrise herrschte. Sie wird auch mit diesem verwirrten Ungarn leben lernen.

Die Vorsicht ist woanders anzusiedeln. Denn natürlich dürfen die europäischen Partner nicht wegsehen bei dem, was in Ungarn derzeit geschieht. Das pubertierende Land soll sich zwar selbst an seinen Fehlern stoßen – die stärkste aller Kräfte ist die selbstreinigende Kraft. In letzter Konsequenz könnte aber auch Ungarn europäische Partner brauchen, die es vor nachhaltigem Schaden bewahren. Dies wird nicht mit Stimmungsmache funktionieren, sondern nur mit sauberen juristischen Mitteln.

Die Europäische Union hätte mit Vertragsverletzungsverfahren ebensolche bei der Hand. Schade bloß, dass sie diese durch Zurückhaltung gegenüber großen Mitgliedsländern (zum Beispiel hinsichtlich Italiens unterwanderter Medienfreiheit) in Misskredit gebracht hat. Umso fataler wäre es, nun allzu rasch in Ungarns inneren Angelegenheiten zu intervenieren. Ungarn wird seine nationalistischen Gefühle kaum in den Griff bekommen, wenn es die EU als Feind wahrnimmt. Europa muss dieses verwirrte Land vielmehr mit seiner Präsidentschaft umarmen, statt es von sich zu stoßen.

E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.12.2010)

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