Technologien haben häufig auch unliebsame Folgen. Eine Forscherin schlägt daher nun vor, die Hinterlassenschaften von Innovationen ins Zentrum von Entscheidungen zu rücken.
Die Geschichte der Menschheit wird häufig als eine Geschichte von Technologien erzählt: Die Zähmung des Feuers, die Erfindung von Landwirtschaft, Schrift und Maschinen, das Nutzbarmachen fossiler Rohstoffe, medizinische Errungenschaften, Digitalisierung – all das hat unser Leben einfacher, gesünder und sicherer gemacht. Allerdings haben Innovationen häufig auch unliebsame Folgen, und diese langfristigen Hinterlassenschaften türmen sich zu immer größeren Bergen an Problemen auf – Stichworte: Raubbau an der Natur, Klimawandel etc.
Die Wiener Wissenschafts- und Technikforscherin Ulrike Felt schlägt nun vor, eine andere Sichtweise einzunehmen: „Was, wenn wir die Hinterlassenschaften von Innovationen ins Zentrum unserer Entscheidungen stellen?“, fragte sie diese Woche bei der renommierten Falling-Walls-Konferenz im Rahmen der Berlin Science Week. „Wir müssen von der naiven Perspektive wegkommen, dass das nächste Neue die Lösung für alles ist.“
Dieser Perspektivenwechsel – weg vom isolierten Blick auf eine Innovation, hin zu deren Hinterlassenschaften – steht im Zentrum des Advanced-Grant-Projekts „Innovation Residues“, das Felt vom Europäischen Forschungsrat (ERC) zugesprochen bekommen hat. In den nächsten fünf Jahren will sie systematisch untersuchen, wie Gesellschaften mit den Hinterlassenschaften von Innovationen umgehen und sich um diese kümmern – und wie dies wiederum ihr Verhältnis zu Innovationen prägt.
Sie macht dies auf mehreren Ebenen. Zum einen wählte sie drei thematische Bereiche mit ganz unterschiedlichen langfristigen Folgen aus: erstens Atommüll, zweitens Mikroplastik und drittens „Data Waste“ (Datenmüll) – also jene Daten, die derzeit massenhaft gesammelt und gespeichert werden (und die wohl in hohem Ausmaß niemals wieder abgerufen werden). Zum anderen untersucht sie die gesellschaftlichen und politischen Mechanismen rund um Innovationen und deren Folgen in verschiedenen Ländern (Irland, Frankreich und Österreich) sowie auf EU-Ebene.
Ihr Ziel ist ein Konzept von „Longue-Durée-Zukünften“ (langfristigen strukturellen Entwicklungen), die weit über das hinausgehen, was wir erlebt haben oder uns vorstellen können – mit Fokus auf Nachhaltigkeit und Verantwortung für künftige Generationen. Felt: „Einfach in die Zukunft rennen, ist keine gute Lösung, wenn wir nicht wissen, in welche Richtung wir rennen sollen.“
Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Wissenschaftskommunikator am AIT.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.11.2022)