Früherkennung

Entwicklungsstörungen bei Kindern

Von der Früherkennung bis zu Vorsorgeuntersuchungen: Auffälligkeiten in der kindlichen Entwicklung gilt es rasch zu erkennen, um Folgeschäden zu minimieren. Sowohl das Neugeborenen-Screening als auch der Mutter-Kind-Pass sind essenziell, um Krankheiten in frühen Jahren zu entdecken.

Kaum ist das Kind auf der Welt, werden im Kreißsaal zahlreiche Untersuchungen durchgeführt. Es folgt das Neugeborenen-Screening mittels Blutabnahme an der Ferse, um seltene Erkrankungen rechtzeitig zu erkennen. Und im Laufe der nächsten Wochen, Monate und Jahre wird das Kind immer wieder hinsichtlich seines Entwicklungsstands überprüft. Was heute selbstverständlich wirkt, etablierte sich erst in den 1970er-Jahren und bewahrt bis heute zahlreiche Kinder vor schweren Schädigungen. Während seltene Erbkrankheiten bei Babys in den ersten Wochen meist unauffällig sind, zeigen sich neurologische Entwicklungsstörungen bei Kindern auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Und jede Auffälligkeit gilt es, früh zu entdecken.

Neugeborenen-Screening. Mit dem ersten Schrei des Kindes stellt sich nach der Geburt bei den Eltern Erleichterung ein. Es ist gesund auf die Welt gekommen und bleibt es in den meisten Fällen auch.
Jedoch gibt es angeborene Erkrankungen, die alles andere als offensichtlich sind, organische Fehlfunktionen oder Stoffwechselerkrankungen beispielsweise. Unbehandelt schädigen sie das Kind, rufen Behinderungen hervor oder führen zum Tod. 1966 wurde das Neugeborenen-Screening gestartet und beinhaltet heute 30 Erkrankungen. Innerhalb von 72 Stunden nach der Geburt wird das Blut der Neugeborenen auf seltene Erkrankungen hin untersucht, beispielsweise zystische Fibrose, Schilddrüsenüberfunktion, Vitamin-B12-Mangel und andere Stoffwechsel- oder Hormonstörungen. 2021 wurde die spinale Muskelatrophie in das Screening aufgenommen.  Dieser Probelauf wird derzeit evaluiert, um auch diese seltene Erkrankung fix in der Untersuchung zu etablieren. „Die Voraussetzung für eine Erkrankung im Neugeborenen-Screening sind Kriterien nach Wilson und Jungner von 1968, wie die Möglichkeit eines sicheren Labortests, frühzeitiges Auftreten von Symptome und Schädigungen, effektive Therapie und fachspezifische Betreuung“, sagt Susanne Greber-Platzer, Leiterin des Österreichischen Neugeborenen-Screenings (siehe auch Seite 18). Im Fall der spinalen Muskelatrophie bedeutet das, dass die Neugeborenen dank einer frühzeitigen Medikamentengabe ihre motorischen Fähigkeiten behalten, anstatt sie sukzessive zu verlieren. Kinder, die vom Screening nicht profitieren konnten, zeigen heute vielfach Behinderungen oder sind gar früh gestorben. „Das Österreichische Neugeborenen-Screening kann als einer der größten Erfolge einer präventiven Gesundheitsstrategie genannt werden, da hiermit seit Jahrzehnten vielen Kindern mit schwerwiegenden angeborenen Erkrankungen eine frühzeitige Therapie ermöglicht wird, die langfristige Schäden verhindern oder deutlich reduzieren“, so Greber-Platzer. Erkannt und behandelt, können die Krankheitsfolgen minimiert werden, wenn auch in den meisten Fällen nicht geheilt. Das schenkt bessere Lebensqualität.

Gesundheitsinfo

Mutter-Kind-Pass. 1974 in Österreich eingeführt, dient er der gesundheitlichen Vorsorge von Schwangeren, Säuglingen und Kleinkindern bis zum fünften Lebensjahr. Mit der Frühkontrolle des Entwicklungsstands der Kinder können Krankheiten frühzeitig behandelt werden.

Neugeborenen-Screening. Seit 1966 in Österreich etabliert, werden flächendeckend Neugeborene auf angeborene Erkrankungen, die noch nicht klinisch sichtbar sind, untersucht. Seltene Stoffwechselerkrankungen und hormonelle Störungen werden so diagnostiziert und eine Behandlung umgehend eingeleitet.



Ausgewertet werden die Blutproben alle an der Medizinischen Universität Wien, die einzelnen Spitäler erhalten dann Rückmeldung über den Gesundheitszustand ihrer Neugeborenen. Das Angebot des Neugeborenen-Screenings wird von der Krankenversicherung übernommen. Nur jeder tausendste Säugling ist auffällig. Das entspricht in etwa 80 bis 100 Kinder im Jahr, bei denen eine schwerwiegende Erkrankung entdeckt wird.

Entwicklung beobachten. Aber nicht nur Stoffwechselstörungen beeinträchtigen das Leben, auch Entwicklungsverzögerungen werden häufig beobachtet. Hinter ihnen können ernsthafte Krankheiten stecken. Laut der Österreichischen Autistenhilfe etwa werden bei 63 von 10.000 Kindern einschlägige Einschränkungen beobachtet. 17 davon sind mit Autismus diagnostiziert und acht mit Aspergersyndrom. Bei diesen Kindern ist die soziale Interaktion eingeschränkt und sie verarbeiten ihre Umwelt anders, gelegentlich haben sie eine Inselbegabung. Grundsätzlich beziehen sich Entwicklungsstörungen aber nicht ausschließlich auf die soziale Interaktion. Die Kinder können bereits in den ersten Lebenswochen auffällig werden, wenn sie den Blick weder zur Mutter oder anderen Objekten richten noch mit den Händen nach Objekten greifen. Ob Motorik, Aufmerksamkeit, Sprache oder soziale Interaktion – die Störung kann stärker oder schwächer und zu unterschiedlichen Zeitpunkten auftreten, weswegen die altersadäquate Kontrolle durch Kinderärzten unabdingbar ist. „Kinderärzte haben den Blick für individuelle Unterschiede und Varianten. Ein Entwicklungsschritt baut auf den anderen auf“, sagt Günther Bernert, Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde der Klinik Favoriten und Präsident der Österreichischen Muskelforschung. Für Eltern, die unsicher sind, ob sich ihr Kind entsprechend der Norm entwickelt, kann der Blick in die Tabelle des Mutter-Kind-Passes hilfreich sein. Er ist Teil der ärztlichen Untersuchungen bis zum fünften Lebensjahr und kommt seit 1974 in Österreich zum Einsatz.

Schritte im Mutter-Kind-Pass. Im Mutter-Kind-Pass sind die einzelnen Entwicklungsschritte benannt und teilweise aufgezeichnet. Ärzten wie Eltern dient er als Orientierung. Bei Unsicherheiten sollten sich Eltern unmittelbar an ihren Kinderarzt wenden. Im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen ist der Kinderarzt grundsätzlich dazu angehalten, die Entwicklungsschritte darin zu protokollieren. Zwischen dem dritten und fünften Lebensmonat etwa kann ein Baby den Kopf eigenständig halten, Personen anlächeln und nach Gegenständen greifen. „Falls niedergelassene Kinderärzte sich über den Entwicklungsstand ihrer Patienten unsicher sind, können sie eine weitere Begutachtung an einem Zentrum für Entwicklungsstörungen oder eine akute Vorstellung an einer Kinderabteilung veranlassen“, sagt Bernert.

Aber nicht nur Eltern und Kinderärzte sind Personen, denen solche Entwicklungsstörungen als Erstes auffallen. Gerade in sozialen Belangen sind oftmals Pädagogen in Kinderkrippen oder -gärten wichtige Bezugspersonen. „Wenn es ein Kind gibt, das sich zurückzieht, nicht mitmacht oder nicht mitmachen kann, dann merken das sowohl die anderen Kinder als auch die Pädagogen. Das kann ein wichtiges Alarmsignal sein“, weiß Bernert, der in diesem Zusammenhang die Bedeutung eines zweiten verpflichtenden Kindergartenjahrs ab dem vierten Lebensjahr betont.

Mobile Frühförderung. Sollte es sich nicht nur um eine Verzögerung handeln – Kinder weisen oft erhebliche Unterschiede auf –, sondern tatsächlich um eine Entwicklungsstörung, werden weitere Untersuchungen unternommen, um hinter den Symptomen die Erkrankung zu finden. „Mehr als 90 Prozent der Eltern kommen bereits mit erfolgter Diagnose zum Erstgespräch. Liegt keine vor, wird das Kind im Erstgespräch beobachtet und dementsprechend eine pädagogische Stellungnahme verfasst, die dem Antrag auf mobile Frühförderung an den Fond Soziales Wien beigelegt wird“, sagt Elisabeth Sauerzopf, Bereichsleitung Mobile Frühförderung beim Wiener Sozialdienst. Die Experten für Frühförderung, die die Familien daheim besuchen, bieten Kindern eine umfassende Förderung in allen Entwicklungsbereichen an, wie dem motorischen, kognitiven oder sprachlichen, ebenso im Spiel- und Sozialverhalten. Sie helfen auch den Eltern im Umgang mit einem Kind mit Behinderungen und geben Raum, um sich mit dieser neuen Situation aus Trauer, Sorge und Zukunftsangst inklusive Berufstätigkeit auseinanderzusetzen. Das Kind wird dabei als fähig gesehen, es darf sich selbst entwickeln. „Am häufigsten betreuen wir Frühgeborene, Kinder mit allgemeinen Entwicklungsverzögerungen, Kinder mit Trisomie 21, Autismus-Spektrum-Störung oder mit schweren mehrfachen Behinderungen“, sagt Sauerzopf. Eine Hilfe die bis zum dritten Lebensjahr mit möglicher Verlängerung in Anspruch genommen werden kann – und auch soll. Denn ist eine Behinderung Gewissheit, falle es oft schwer, sich auf die neue Situation einzulassen und Freude mit dem Kind zu erleben.

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