Leitartikel

Katar canceln: Moralisches Golden Goal oder Eigentor?

APA/AFP/PABLO PORCIUNCULA
  • Drucken
  • Kommentieren

Die Fußball-WM im unfreien Wüstenstaat ist eine Schnapsidee. Aber sollen deshalb Zuschauer wegschauen? Ein kleiner Leitfaden zum Thema Boykott.

Diese WM sollte es nicht geben. Eine Fußballweltmeisterschaft in einem Zwergstaat ohne Fußballtradition, wo die Monumente des Größenwahns nach dem Abpfiff zweckfrei vor sich hin bröckeln werden: Ein Unsinn. In der Wüste, wo es so heiß ist, dass man die Stadien mit immensem Energieaufwand kühlen und den Termin in den Winter verlegen muss, was in alle anderen Sportkalender reingrätscht: Eine Schnapsidee. Der Zuschlag erkauft durch Bestechung korrupter Fifa-Funktionäre: Eine Frechheit. Die Infrastruktur gebaut von Gastarbeitern, die über viele Jahre wie Zwangsarbeiter behandelt worden sind: Moralisch empörend. Und das alles zum Ruhme eines Regimes, das Ehebrecherinnen einsperrt und gleichgeschlechtlich Liebende auspeitscht: Pfui. Aber jetzt ist es zu spät, die Veranstaltung geht los, alle nehmen teil. Alle? Wir Zuschauer könnten wegschauen. Als Ersatzhandlung für das, was Verbände und Politik vor zehn Jahren verabsäumt haben. Eigenhändig boykottieren?

Der ruppige englische Gutsverwalter Charles Cunningham Boycott hatte es sich 1880 in Irland mit Kleinpächtern verscherzt. Die Reaktion war ungewohnt: Taglöhner hörten auf, die Ernte einzuholen. Köchinnen und Stallburschen verließen das Gut. Im nahen Städtchen bediente ihn niemand, kein Bäcker und keine Wäscherin. Der Briefträger stellte keine Post mehr zu. Schließlich musste er fliehen. Das war etwas Neues: kollektive Ächtung, verweigerter Geschäftsverkehr, um ein anderes Verhalten zu erzwingen. Bald benannt nach dem ersten Opfer: „a boycott“, „to boycott“ – und als Lehnwort fand der Ungustl Eingang in viele Sprachen.


In der Weltpolitik wirken Sanktionen oder Embargos, im Arbeitskampf Streiks. Der Boykott ist symbolisch, er signalisiert Entrüstung, wo nicht allzu viel auf dem Spiel steht. Aber Spiele bieten sich an, vor allem Olympische. Wir hätten die Lektion schon 1936 lernen können: Die Sommerolympiade im Dritten Reich, von Leni Riefenstahl effektvoll gefilmt, war die beste Propaganda, die sich Hitler wünschen konnte. Seinen Opfern half sie nicht, im Gegenteil. Zwar wurden die Juden ein paar Monate lang nicht drangsaliert. Aber nach Meldungen zum Novemberpogrom 1938 dachten sich im Ausland viele: „Wird schon nicht so schlimm gewesen sein, ist doch ein normales Land, wir haben es ja gesehen“ – und die Proteste waren viel zu schwach, um die Mordlust zu stoppen.

Boykotte im großen Stil? Gab es: Bei den Spielen in Moskau 1980 blieb der Westen fern, bei der Revanche in Los Angeles der „Ostblock“. Aber das war Folklore im Feldlager des Kalten Kriegs, in einer gespaltenen Welt. Wir kennen nur noch zahnlose diplomatische Gesten: Politiker fliegen nicht zu Eröffnungsfeiern, wie in Peking 2008 oder Sotschi 2014. Das fiel kaum auf. Alles fand statt, und wieder galt: Es profitieren nur die Autokraten.

Freilich kommt ein Eklat heute teuer zu stehen, weil die Volkswirtschaften so eng verflochten sind. Das ist auch gut so, die Globalisierung befriedet, Russlands Krieg ist die Ausnahme von der Regel. Aber Unrechtsstaaten von vornherein nicht den Zuschlag zu geben, ist kein Eklat. Es erspart Ärger, Scham und Peinlichkeit. Hätte man Putin doch keine Bühne geboten, damals in Sotschi . . .

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.