Kritik

Netflix-Serie „1899“: Deutsche Mysterien auf hoher See

(c) Netflix
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Die deutsche Serie „Dark“ von Baran bo Odar und Jantje Friese war ein Welterfolg, nun legt das Duo nach: „1899“ verzeiht keine Unaufmerksamkeit.

Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass in jeder deutschen Serie und in jedem deutschen Film ein Wald vorkommen muss. Bevorzugt Laubwald, zur Not tun es auch Nadelbäume. Selbst in der neuen Mystery-Serie „1899“, die auf hoher See spielt, gibt es einen Ausflug in diesen deutschesten Ort der Sehnsucht und des Albtraums. Eyk Larsen (Andreas Pietschmann aus „Dark“), der Kapitän des Auswandererschiffes „Kerberus“, irrt darin durch einen Wald, ehe er vor einem Haus auf einer Lichtung stehen bleibt. Er sieht seine Tochter am Fenster stehen, seine Frau stellt sich neben sie, dann geht das Gebäude in Flammen auf. Larsens Frau hat das Haus wirklich abgefackelt, erfährt man, zusammen mit sich und den drei Töchtern. Tote Kinder, auch die gibt es zuhauf in deutschen Produktionen.

Zeigt die Szene eine Fantasie oder eine Erinnerung Larsens, oder eine Halluzination? Ein Rätsel, wie so viele in „1899“. Denn eigentlich wird in der Serie ein verschollenes Schiff gesucht, die Prometheus. Mehr als vier Monate hat man nichts von ihr gehört, dann werden dem Schwesternschiff Kerberus dessen Koordinaten gemorst. Gegen den Widerstand von Besatzung und Passagieren folgt Larsen dem Ruf der Prometheus, findet an Bord des Schiffes aber nur einen Passagier lebend vor: einen Buben ohne Namen und mit unheimlichen großen blauen Augen, der in eine Kommode gesperrt ist. Die allein reisende Ärztin und Hirnforscherin Maura Franklin (Emily Beecham) nimmt das Kind auf und versucht, ihm das Geheimnis um die Prometheus zu entlocken. Gleichzeitig entsteigt ein blinder Passagier (Aneurin Barnard) dem Meer und zieht in die Kabine neben Franklin ein. Es gibt grün schillernde Käfer und kleine schwarze Pyramiden, geheimnisvolle Briefe und ein Symbol, das man auf Interieur, Schmuck und Schriftstücken wieder entdeckt. Beim Intro erklingt ein Cover von Jefferson Airplanes „White Rabbit“: „When logic and proportion have fallen sloppy dead“, heißt es darin. „Remember what the dormouse said: Feed your head.“ Alles hängt zusammen, alles könnte bedeutsam sein. „1899“ verzeiht keine Unaufmerksamkeit der Zuschauer.

Man muss die Untertitel lesen

Auch wegen der Sprache: Die Auswanderer, die allesamt Geheimnisse verbergen, kommen aus Spanien, Dänemark, Frankreich, China. Was sie sagen, wird nicht synchronisiert, sondern untertitelt. Um nichts zu verpassen, muss der Blick stets am Bildschirm haften bleiben. Das strengt mitunter an.

Die Serie stammt von dem Duo Baran bo Odar und Jantje Friese, er führte Regie, sie schrieb das Drehbuch – wie bei „Dark“. In dieser Netflix-Serie gab es ebenfalls jede Menge Mysterien, zudem Zeitreisende, ein Atomkraftwerk und sehr, sehr viel Wald. International war „Dark“ erfolgreich, die dritte und letzte Staffel tauchte 2020 auch in diversen Bestenlisten auf. Das Erbe für den Nachfolger „1899“ wiegt also schwer. Rund 50 Millionen Euro soll die achtteilige Serie gekostet haben. Damit löst sie das Sky-Prestigeprojekt „Babylon Berlin“ als bislang teuerste deutsche Serie ab.

Gedreht wurde „1899“ aufgrund von pandemiebedingten Reisebeschränkungen vor gigantischen LED-Hintergründen im neuen Dark-Bay-Studio in Babelsberg, Berlin. Die virtuellen Welten, in diesem Fall also das meist stahlblaue Meer vor meist stahlgrauem Himmel, wurde auf riesigen Bildschirmen eingespielt und abgefilmt. Ein Vorteil für die Schauspieler, die sich sonst vor Green Screens die Umgebung imaginieren müssen, doch es bleibt eine gewisse Künstlichkeit, die in diesem Fall wohl gewollt ist.

Wenig Tiefe haben auch die Figuren. Die Fülle an Mysterien lässt kaum Entwicklung zu. Wie ferngesteuert wandeln die Protagonisten durch die langen holzgetäfelten Gänge des Schiffes, in der jede Orientierung verloren geht. Deutlich ist nur, dass mit allen etwas nicht stimmt und sie erfüllt sind von einer unbestimmten Angst. Die gestandenen Seeleute fürchten sich vor dem Meer und die Hirnforscherin traut ihrer eigenen Wahrnehmung nicht. Da wünscht man sich etwas Echtes, Greifbares herbei, wie eben einen ordentlichen deutschen Wald.

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