„Presse“-Gespräch

Experte Reisner: Im Donbass üben die Russen Druck aus

Donezk
DonezkIMAGO/ITAR-TASS
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Markus Reisner warnt davor, die russsichen Truppen im Donbass zu  unterschätzen. Die Umstände ihres Abzugs aus dem südlichen Cherson sind ihm unterdessen ein Rätsel.

Wien/Kiew. Während im Süden, in der befreiten Provinzhauptstadt Cherson, der erste Nachtzug aus Kiew einrollt, wütet der Krieg weiter östlich, im Donbass, nach wie vor mit gnadenloser Härte. Russland überzieht die Ukrainer dort mit massiven Artillerieangriffen. Der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskij, berichtet von heftigen Gefechten. 400 Granaten, sagt er, seien an einem einzigen Tag alleine von der russischen Seite abgefeuert worden. Nach Angaben von Kiew verlegt Russland nach dem schmachvollen Abzug aus Cherson auch frei gewordene Kräfte in den Osten.
Braut sich dort, im Donbass, vor allem in der Provinz Donezk, etwas zusammen?

„Von einer großen Offensive der Russen zu reden ist zu früh“, sagt Militärexperte Oberst Markus Reisner zur „Presse“. Die Russen könnten aber trotz operativer Niederlagen anderswo (Kiew, Cherson, Raum Charkiw) im Donbass noch immer „massiven Druck“ ausüben. „Auch wenn man das nicht hörn will: Im Donbass ist es so, dass die Russen immer noch kleine Fortschritte machen“, sagt Reisner. „Ihr Problem ist aber, dass ihnen Infanterie fehlt.“ Die Masse an mobilisierten Reservisten käme nämlich frühestens im Dezember oder im Jänner. Allerdings zweifeln viele Experten, dass die teils schlecht ausgebildeten Reservisten Russlands Offensivkraft bedeutend erhöhen werden.

Reisner: Wie im „Fegefeuer“

Die brutalen Kämpfe an der von zahllosen Kratern entstellten Front im Osten bezeichnet Reisner als „Fegefeuer“: Es gebe ein Hin und Her mit ungewissem Ausgang. Zugleich klopft der Winter an die Tür. Die Witterung sei jetzt schon katastrophal – und „die Soldaten können nur eine begrenzte Zeit im Freien verharren bei diesen Temperaturen“. Reisner glaubt auch deshalb, dass der Winter den Krieg „eher beruhigen“ wird: „Historisch war das immer so.“ Es gibt auch Berichte, wonach die Russen im Osten ganze Dörfer zwangsumsiedeln und als Winterquartiere für ihre Soldaten zweckentfremden. Allerdings bedeute das alles nicht, dass es keine lokal begrenzten Vorstöße in der kalten Jahreszeit geben wird, falls eine Seite die Gelegenheit dazu sieht. Auch dafür gibt es historische Beispiele.

Reisner rätselt unterdessen noch immer, warum die Ukraine die 25.000 bis 30.000 russischen Soldaten mit ihren bis zu 3000 Fahrzeugen aus der Stadt Cherson auf das andere Seite des Dnipro-Ufers abziehen ließ. Denn die Russen seien in Reichweite der ukrainischen Mehrfachraketenwerfer Himars gewesen. Reisner schließt nicht aus, dass es im Hintergrund einen „Deal“ gegeben hat. Aber er warnt: Im schlimmsten Fall drohte der Ukraine eine Art „Dünkirchen-Moment“ – in Anspielung auf die Rettung Hunderttausender eingekesselter alliierter Soldaten 1940, die später im Verlauf des Zweiten Weltkriegs wieder eingegriffen haben.
Die aus Cherson abgezogenen Soldaten würden punktuell die 1200 Kilometer lange Front verstärken: das Südufer des Dnipro, den Raum Saporischschja, wo die Ukrainer womöglich Richtung der größeren Stadt Melitopol drängen, und den Abschnitt im Donbass. Unter den abgerückten Soldaten seien auch Elite-Fallschirmjäger, deren Kampfkraft aber freilich bereits gelitten habe.

Nach der Aufgabe von Cherson gab es Spekulationen, dass Putin den taktisch notwendigen Rückzug nur abgenickt hat, wenn ihm sein neuer Feldherr in der Ukraine, Sergej Surowikin, im Gegenzug die Provinz Donezk zur Gänze erobert, die Russland sich auf dem Papier im September illegal einverleibt hat. Reisner schließt nicht aus, dass den Russen die Besetzung der Provinz Donezk noch gelingen könnte in den nächsten Monaten.

Allerdings musste der Kreml auch im Donbass schon schwere Rückschläge hinnehmen. Die Provinz Luhansk war schon zur Gänze besetzt gewesen, bevor die Ukrainer dort wieder einfielen. Nach Einschätzung britischer Experten massieren die Russen nun Truppen zur Verteidigung von Swatowe, einer strategisch nicht unbedeutenden Stadt in Luhansk, die früher rund 18.000 Einwohner zählte und an einem Nebenfluss des Siwerskij Donez liegt.

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