Wie Russland die Infrastruktur der Ukraine zerstören will - und wie der Westen reagieren könnte.
In Kiew wachten sie am Donnerstag in einem Albtraum auf. In den meisten Haushalten floss kein Strom und in den Stadtteilen westlich des Dnipro auch noch kein Wasser. Viele Heizungen waren tot. Vitali Klitschko, der Bürgermeister, schwor schon vor den jüngsten Angriffen seine geschundene Stadt auf den „schlimmsten Winter“ seit 1945, seit dem Zweiten Weltkrieg, ein. Und nicht nur Kiew leidet. Sondern das ganze Land. Jede einzelne Region. Auch Lwiw weit im Westen kämpft mit Blackouts. Putin jagt Marschflugkörper und Raketen in die zivile Infrastruktur Hunderte Kilometer hinter der Front. Der Einsatz der teuren und mittlerweile raren Waffen zeigt, welche Bedeutung Russland der Schlacht um die Infrastruktur beimisst: Die Ukrainer sollen frieren, und sie sollen fliehen. In die EU. Noch gibt es keinen Massenexodus. Aber der Ausblick ist düster. Das Stromnetz bleibt auf Monate „labil“. Im besten Fall. Denn es wird kälter in der Ukraine. Und es wird nach jedem Raketenangriff schlimmer.
Die Angriffe
Es begann am 10. Oktober um elf Uhr vormittags: Seither hat Russland die kritische Infrastruktur mit sieben Angriffswellen überzogen. Die Russen kennen ihre Ziele. Sie haben sie entworfen. Das Stromnetz stammt großteils aus der Sowjetunion und ist „sehr zentralisiert“, sagt Militärexperte Markus Reisner zur „Presse“. Das zentrale Nervensystem bilden Leitungen mit einer Spannung von 750.000 Volt (750 kV). Im Straßennetz wären sie die Autobahnen. Sie führen Gleichstrom an Knotenpunkte heran, wo 330-kV-Leitungen abzweigen (die „Bundesstraßen“), die sich an weiteren Kreuzungen verästeln – die „Landesstraßen“ sozusagen.