Medizintechnik

Eine Prothese, die beim Gehen mitdenkt

Ein Wiener Start-up schafft ein System, mit dem beinamputierte Menschen lernen, mit der Prothese zu fühlen. Forschende von Salzburg Research verbessern die mobile Ganganalyse und verhindern so Fehlhaltungen.

Phantomschmerzen gehören zu den unangenehmsten Beschwerden von Menschen, die ein Bein oder einen Arm verloren haben. Sie entstehen, weil das Gehirn die Signale, die vom amputierten Körperteil kommen sollten, nicht mehr abholen kann. „Es ist so ähnlich, als würde das Radiosignal in einem Tunnel verloren gehen und man hört nur noch Rauschen“, beschreibt Rainer Schultheis dieses Phänomen. Er hat – gefördert von der Austria Wirtschaftsservice AWS – mit Partnern das Start-up Saphenus Medical Technology gegründet. Das Unternehmen entwickelte ein System, um beinamputierten Menschen das Gefühl für ihren Fuß wieder zurückzugeben.

Das Gehirn lernt über sensorische Informationen, die Bewegungen der Prothese zu erfühlen. Basis dafür ist eine mit Drucksensoren ausgestattete Socke, die über die Prothese gestülpt wird. Wo die Prothese am Bein aufsitzt, befindet sich eine Manschette, in die Vibrationsmotoren eingewebt sind. Diese übertragen die Informationen aus den Sensoren auf den Körper. „Nach etwa zwei Wochen lernt das Gehirn zu verstehen, dass es den Fuß fühlt“, beschreibt Schultheis.

Damit verringern sich nicht nur die Phantomschmerzen der Betroffenen, auch ihre Gangstabilität und Sicherheit werden verbessert. „Wenn man den Fersendruck spürt, muss man nicht mehr ständig auf den Boden schauen und geht sicherer“, so der Unternehmer.

Sensorsocke vibriert spürbar

Rasch war ihm klar, dass die Sensorsocke eigentlich noch mehr kann. Gemeinsam mit der Forschungsgesellschaft Salzburg Research wurde das System für eine mobile Ganganalyse weiterentwickelt. Das Human Motion Analytics Team von Salzburg Research hat viel Erfahrung dabei, menschliche Bewegung zu messen, die dabei gesammelten Daten zu verknüpfen und zu analysieren. „Wir haben dafür die Algorithmen gemacht“, erläutert Severin Bernhart, Dateningenieur bei Salzburg Research. Damit beinamputierte Menschen ihre Mobilität und Lebensqualität zurückgewinnen, müssen sie das Gehen mit der Prothese während der Rehabilitation neu lernen. Ein Teil dieses Prozesses ist die Ganganalyse, die darauf abzielt, mit beiden Beinen symmetrisch aufzutreten. Prothesenträger gehen dazu einige Schritte auf einer speziellen Diagnosematte. „Die Laborsituation ist immer nur eine Momentaufnahme und bildet die Alltagsbewegung mit der Prothese nur unzureichend ab“, sagt Bernhart. Die Sensorsocke – gepaart mit einem Bewegungssensor am gesunden Bein – liefert hingegen Daten über die „echte“ Bewegung, und hilft bei entsprechender Analyse dabei, dass sich falsche Bewegungsmuster, Fehlhaltungen oder unregelmäßiger Gang erst gar nicht einschleichen.

Über ein Feedbacksystem – die Vibrationsmotoren – erhält der Prothesenträger die Info, was er ändern sollte. „In der Rehabilitation kommen viele gut zurecht, aber im Alltag sind viele Betroffene mit den Prothesen anfangs überfordert. Da hilft ein Feedbacksystem in Echtzeit, um Fehlhaltungen rasch zu korrigieren“, sagt Bernhart. Es kann die Physiotherapie nicht ersetzen, aber ergänzen.

In einem nächsten Schritt soll die mobile Ganganalyse in einer Nutzerstudie evaluiert werden. Und auch Schultheis denkt schon weiter: Bei Handprothesen könnte ein ähnliches System aus Sensoren und Feedback helfen, die Greifkraft zu verbessern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2022)

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