Beim Netflix-Reality-Format „Too Hot to Handle“ werden normschöne Singles unter einem Keuschheitsgebot auf einer paradiesischen Insel ausgesetzt.
Reality-TV

Reizsteigerung als Erfolgsrezept - seit über 20 Jahren

Stetige Modifikation verhilft dem Reality-TV seit mehr als zwanzig Jahren zum konstanten Erfolg. Dabei bleiben die Grundbausteine des Genres aber recht unverändert.

Begonnen hat alles mit ein paar Containern in den Niederlanden und einer Kamera, die nicht aufhörte zu filmen. 1999 wurde „Big Brother“ zum internationalen Medienphänomen, nur ein Jahr später startete die erste Staffel im deutschen Fernsehen. Es war die Geburtsstunde des deutschsprachigen Reality-TV, das auch in Österreich bald Früchte trug. Erst vorige Woche wurde das Finale des neuen ATV-Formats „Forsthaus Rampensau“ ausgestrahlt. Neun Promi-Paare spielten dort um den Sieg und gegen den Auszug aus einer Almhütte in Kärnten. Im Schnitt erreichte eine Folge laut Produzent ATV einen Marktanteil von 11,3 Prozent. Mit der Show meldete der Fernsehsender den erfolgreichsten Start einer Sendung seit „Bauer sucht Frau“ – ebenso Reality-Format.

Verändert hat sich seit den frühen Anfängen so einiges, nicht aber das Grundrezept des Genres oder dessen Erfolg. Es geht um Konflikt und Wettstreit („Confrontainment“), zwischenmenschliche Dramen und Welten, die einem oft fremd sind. Themenschwerpunkte sind breit gefächert: Es gibt Datingformate, wo normschöne Singles im Paradies aufeinandertreffen – wahlweise nackt, kostümiert oder bekleidet („Love Island“, „Too Hot to Handle“), Wettkämpfe vermeintlicher Promis („Dschungelcamp“, „Forsthaus Rampensau“), Castingshows („Germany's Next Topmodel“, „Deutschland sucht den Superstar“), Einblicke in die Lebensrealität der Reichen und Schönen oder in die Leben von ökonomisch Benachteiligten („Teenager werden Mütter“).

Die grosse Liebe: Paarung. Ob man sich wie in „Adam sucht Eva“ splitternackt datet, sich für den begehrlichen Junggesellen ins Zeug wirft wie in „Der Bachelor“ oder das Gegenüber erst nach der Verlobung zu Gesicht bekommt wie in „Love is Blind“, eigentlich suchen hier alle die große Liebe.
Die grosse Liebe: Paarung. Ob man sich wie in „Adam sucht Eva“ splitternackt datet, sich für den begehrlichen Junggesellen ins Zeug wirft wie in „Der Bachelor“ oder das Gegenüber erst nach der Verlobung zu Gesicht bekommt wie in „Love is Blind“, eigentlich suchen hier alle die große Liebe.(c) PATRICK WYMORE/NETFLIX

Verwegener Ruf. Seit jeher ist das Genre als „Trash-TV“ und Sozialpornografie verschrien. „Kopf abschalten“, „berieseln lassen“ gelten als Motive der Trash-Aficionados, nicht wenige erfreuen sich auch daran, im Vergleich gut wegzukommen. „Bei Reality-Formaten geht es weniger um Identifikation als um Abgrenzung, sowohl nach unten als auch nach oben. Man will sich in seiner eigenen Lebenswelt bestätigt sehen“, sagt Joan Bleicher, Professorin für Medienwissenschaften an der Uni Hamburg. Seit 15 Jahren forscht sie zu Reality-TV – die Nachfrage bleibt seither konstant. Für Sender und Streamingdienste ein Ansporn nachzuliefern.

You Have No Idea How Iconic This Is!
You Have No Idea How Iconic This Is!(c) HULU

„Für das Publikum gibt es unterschiedliche Nutzungsmotive: Die einen sind wirklich interessiert am Leben der anderen, wollen teilhaben und halten Gesehenes für authentisch. Die anderen fühlen sich davon unterhalten, dass Darstellende an der Selbstinszenierung scheitern“, so Bleicher, rezipiert wird von Jung und Alt gleichermaßen. Für Reality-Formate sei es immerzu wichtig, die eigenen Produktionsbedingungen intransparent zu halten. „Das ist Teil des Authentizitätspakts mit dem Publikum: Das geht zumindest während der Rezeption davon aus, dass sich Dargestelltes genau so ereignet hat“, erklärt die Expertin weiter. Indes verschwimmen die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion zunehmend. „Die dokumentarische Ausrichtung wird immer öfter mit vorgegebenen Handlungsstrukturen vermischt.“ Beobachtung und Inszenierung fließen so ineinander, etwa durch das Zusammenfügen dokumentarischer Szenen und post-produzierter Kommentare.

Für Sender und Unternehmen fallen so kaum Produktionskosten an, die Gagen der Laiendarsteller sind gering, das Set-Design unaufwendig. Es ergibt sich ein gutes Preis-Leistung-Verhältnis. Mit ein Grund, warum der Streaming-Riese Netflix den Markt regelrecht mit Reality-Formaten flutet. „Dabei setzt der Anbieter auf ,glokale‘ Inhalte: Also lokal produziert, aber die Inhalte lassen sich global exportieren“, sagt Bleicher, so etwa die spanische Serie „Liebe lügt nicht“. Untertitel oder eine konsekutive Übersetzung rüsten die Inhalte für den internationalen Markt.

Der kleine Mann: Sozialporno. Das Publikum schaut sich diese Formate entweder verschämt „ironisch“ oder offenkundig voyeuristisch an. Bei „Bauer sucht Frau“, „Teenager werden Mütter“, „Diagnose: Messie“ und „Big Brother“ lacht man genüsslich über die blöden Aussagen sozial Schwächerer und freut sich, dass man nicht so ist.
Der kleine Mann: Sozialporno. Das Publikum schaut sich diese Formate entweder verschämt „ironisch“ oder offenkundig voyeuristisch an. Bei „Bauer sucht Frau“, „Teenager werden Mütter“, „Diagnose: Messie“ und „Big Brother“ lacht man genüsslich über die blöden Aussagen sozial Schwächerer und freut sich, dass man nicht so ist.(c) ERNST KAINERSTORFER

Fusion und Recycling. Um das Publikum aber auch langfristig, soll heißen über mehrere Staffeln, an die Bildschirme zu fesseln, brauche es eine „Reizsteigerung“. „Wenn sich normale Reality-Sendungen in ihrer Wirkung abnutzen, müssen etwa Prominente her“, sagt Bleicher, wenn auch der Begriff innerhalb des Genres flexibel zu definieren ist. Als prominent oder „VIP“ gilt jener oder jene, der oder die schon mindestens ein, zwei Mal bei einem Reality-Format Präsenz gezeigt hat.

Gut abzulesen ist das auch am erwähnten ATV-Format „Forsthaus Rampensau“. Die Teilnehmenden, die sich dort neben närrischen Wettbewerben (nur ein Paar kann „Rampensau 2022“ werden) vorrangig dem Alkohol und Liebeleien widmen, kennt so manch Eingeweihter schon aus anderweitigen ATV-Sendungen, etwa „Bauer sucht Frau“, „Tinder Reisen“ oder „Saturday Night Fever“. Das „Recycling“ von Teilnehmenden für mehrere Formate der gleichen Produktionsfirma, Bleicher spricht gar vom „Star-System“, ist in der Branche durchaus üblich. Viele hoffen auf eine Karriere als wiederkehrender Reality-Star.

Nischenkultur: Nerdig. Es gibt sie, die Foodies, die Backnarrischen, die Crime-Nerds, die Ordnungsfreaks, die Interior-Begeisterten, die Fashionistas. Und für sie alle gibt es im Reality TV Angebote. „Aufräumen mit Marie Kondo“, „In Teufels Küche“, „Tiger King“, „Project Runway“ oder „Queer Eye“ sind nur einige der Shows für besondere Interessen.
Nischenkultur: Nerdig. Es gibt sie, die Foodies, die Backnarrischen, die Crime-Nerds, die Ordnungsfreaks, die Interior-Begeisterten, die Fashionistas. Und für sie alle gibt es im Reality TV Angebote. „Aufräumen mit Marie Kondo“, „In Teufels Küche“, „Tiger King“, „Project Runway“ oder „Queer Eye“ sind nur einige der Shows für besondere Interessen.(c) Denise Crew/Netflix

Forciert wird das Genre zudem mit Mischformen einzelner Formate. Zuletzt führte der Streaming-Riese Netflix ein solches ein: „Sexy Beast“. Auserwählte suchen dort ähnlich der Datingshow „Love is blind“ eben blind nach der Liebe. Statt einer Wand, die die Turteltauben trennt, tragen hier beide eine aufwendige Maske. Ein Element der Musikshow „The Masked Singer“.

Weite Welt. Was das Genre (entgegen der gängigen Erwartung) auch kann, jüngst auch mehr und mehr tut, ist Horizonte zu erweitern. Mit „Princess Charming“, einer Kuppelshow für homosexuelle Frauen nach dem berühmten Format „Der Bachelor“, und deren männlichem Pendant gewährt das Format Einblicke in eine vielen Menschen eher unbekannte Welt – ohne Spott und Häme. Es zeigte sich ein für Reality-TV-Formate atypisches Produktionsmuster, etwa wurde in der ersten Episode von Staffel eins ein handgreiflicher Zwischenfall zweier Teilnehmerinnen ausgeblendet, stattdessen im Bild: eine Texttafel mit Erklärung, warum beide Frauen die Show verlassen mussten.

In vielen Formaten wäre eine solche Szene ausgeschlachtet worden, nicht zuletzt weil sich ein Großteil des Publikums durch emotionale Ausbrüche unterhalten fühle, so Bleicher. Trauer oder Aggression schlagen um ins Komische. „Mit ,Princess Charming‘ wurde die Chance, verschiedene Lebenswelten abzubilden, ergriffen, oft werden aber die diversen Mitwirkenden eher bloßgestellt“, erklärt Bleicher. So räumte die erste Staffel der Sendung gar den Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie Unterhaltung Reality ab.

Wenige diverse Formate und altbewährte Inhalte koexistieren derzeit. In ihnen kollidieren auch Konzepte – „Safe Space“ und peinliche (Selbst)Entblößung. Die Welt des Reality-TV war stets das krasse Gegenteil eines „Safe Space“: Das könnte sich freilich noch ändern.

Um die Welt

„Too hot to handle“ (Bild). Das Netflix-Format (Deutscher Titel: „Finger weg!“) wird seit dem Jahr 2020 ausgestrahlt. Normschöne und liebestolle Singles suchen dort nach ihresgleichen. Je ein Ableger aus Brasilien und Lateinamerika kam seither hinzu. Eine deutsche Version soll folgen.

„Big Brother“. Der Name leitet sich nicht zufällig von George Orwells Dystopie „1984“ ab: Teilnehmende leben über Wochen zusammen in Wohncontainern und werden dabei durchgehend gefilmt. Es war eines der Ur-Reality-Formate und eroberte ausgehend von den Niederlanden 1999 die ganze Welt: Das Format wurde von 62 Ländern aufgegriffen.

„Got Talent“. Das britische Castingshow-Format hat es sogar ins Guinness-buch der Rekorde geschafft: In 69 Ländern sind Spin-offs der Sendung entstanden, in der Menschen mit ihren individuellen Talenten um die Gunst des Publikums und der Jury buhlen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.11.2022)

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