Morgenglosse

Der Streik ist kein Österreicher

Fast nirgendwo sonst wird so selten gestreikt wie hierzulande. Woran das liegt, sieht man, wenn sie einmal nicht funktioniert: die gute, alte Sozialpartnerschaft.

Österreich ist Vizeweltmeister. Leider nicht im Fußball, sondern bei der Streikvermeidung. Beinahe nirgendwo sonst legen Arbeitnehmer seltener ihre Tätigkeit nieder. Laut einer Studie der deutschen Hans-Böckler-Stiftung entfielen zwischen 2011 und 2020 auf 1000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Schnitt lediglich zwei Streiktage. Nur in der Schweiz wird die Arbeit noch seltener niedergelegt, nämlich an nur einem Tag in neun (!) Jahren.

Das merkt man auch. „Breaking News“-Artikel und große Titelseiten gingen dem heutigen bundesweiten ÖBB-Streik voraus. Ausfallende Züge sorgen hierzulande für eine Art Endzeitstimmung. Andernorts gehören Streiks und deren unangenehme Folgeerscheinungen zur Lebensart: Frankreich (93 Tage) liegt laut Studie hinter Belgien (97 Tage) bei der Zahl an Streiktagen an der absoluten Spitze im Ländervergleich. Darin wohlgemerkt gar nicht berücksichtigt sind die öffentlichen Sektoren wie Post, Bahn oder Behörden, die in Frankreich traditionell oft bestreikt werden.

Die Arbeitsniederlegung ist dort, wie in vielen Ländern, keine ultima ratio, sondern Mittel zum Zweck. Ein Recht, das eingefordert wird - auch weil es keine Sozialpartnerschaft gibt, die seit 1945 im stillen Kämmerlein Deals für alle aushandelt. Im kompromissverliebten Österreich fürchten unterdessen ORF-Journalisten um den drohenden Imageschaden für die ÖBB, wenn sie es einmal wagt, erstmals seit Jahren bundesweit zu streiken. Aus Klimasicht ist der Total-Stillstand der Bahn tatsächlich alles andere als optimal. Aber vielleicht klebt sich ja die „Letzte Generation“ als Kompensation an einen Streikposten fest. Wer weiß.

Große Schmerzen empfindet die ÖBB ohnedies. Zahllose Vorwarnungen und Aussendungen sollten erzürnte Kunden schon im Vorfeld behutsam besänftigen. Sie kennt sie gut, ihre Kunden. Denn Herr und Frau Österreicher haben dafür wenig Verständnis. Die Arbeit niederlegen zum Eigennutz? Wo kommen wir denn da hin! Nach Paris vielleicht? Im Nightjet vorerst jedenfalls nicht.

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