Gastkommentar

Der Klimastreik war nicht schuld an ihrem Tod

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Die Debatte um einen Unfall in Berlin Anfang November zeigt unsere verquere Sicht auf den Straßenverkehr.

Im Englischen gibt es den Begriff „Car Blindness“. Er beschreibt, wie wenig bewusst wir Autos in unserem alltäglichen Umfeld wahrnehmen, wie sehr sie uns als natürlicher Teil der Landschaft erscheinen. Wie selbstverständlich wir Kleinkindern einschärfen, unterwegs ihren Bewegungsdrang zu zügeln, und von Fußgängern und Joggerinnen verlangen, sich hell zu kleiden. Wie absurd wir es fänden, wenn jemand verlangt, zwölf Quadratmeter des öffentlichen Raums für seine private Sofalandschaft oder die Kisten aus seinem Keller nutzen zu dürfen – wie normal es aber ist, zwölf Quadratmeter des öffentlichen Raums kostenlos mit dem privaten Auto zu besetzen.

Die Autorin

Ruth Eisenreich (* 1987) arbeitet als freie Journalistin u. a. für „Die Zeit“, ist Chefredakteurin des Fahrradmagazins „Drahtesel“ und Mitgründerin des werbefreien, mitgliederfinanzierten Onlinemagazins tag eins, dessen Crowdfunding noch bis 28. November läuft.

Im November hat sich gezeigt, dass der öffentliche Diskurs nicht nur an Autoblindheit leidet, sondern auch an einer offenbar verwandten Störung: an Betonmischerblindheit.

Nach dem Unfalltod einer Berliner Radfahrerin Anfang November wurde in den deutschen und auch in den österreichischen Medien ausgiebig hin- und herdiskutiert: Hätte das Spezialfahrzeug, das wegen einer Klimaprotestaktion erst mit Verzögerung zum Unfallort kam, die Radfahrerin retten können? Sind die Klimaaktivisten und -aktivistinnen mitschuldig am Tod der Frau? Darf Klimaaktivismus so weit gehen?

Überfahren vom Betonmischer

Was in der Diskussion völlig unterging: Warum brauchte die Radfahrerin überhaupt einen Rettungseinsatz? Sie brauchte ihn, weil ein Betonmischer sie überfahren hatte. Egal, wie man zu den Aktionsformen der Klimaprotestierenden steht, ob man sie sinnvoll oder blödsinnig findet: Sie sind nicht schuld am Tod der Radfahrerin.

In der medialen Debatte aber klang es, als wäre die Frau bei einer unvermeidbaren Naturkatastrophe verletzt worden. „,Klimakleber‘ behinderten Rettung einer Radlerin in Berlin“, titelte etwa „Der Standard“, „Straßenblockade durch Klimaprotest: Radfahrerin nach Unfall verstorben“, lautete eine Überschrift in der „Presse“.

Dabei ist ein solcher Unfall natürlich vermeidbar. Die unmittelbare Verantwortung für den Tod der Radfahrerin trägt der Mann, der sie mit einem Betonmischer überfahren hat. Vielleicht war er unvorsichtig; vielleicht hatte er von seiner Fahrerkabine aus keine Chance, die Radfahrerin zu sehen. In letzterem Fall tragen womöglich sein Arbeitgeber oder der Hersteller des Betonmischers eine Mitverantwortung. Sicher eine moralische Mitverantwortung tragen die zuständigen Berliner Verkehrspolitikerinnen und Beamten: Wie die Zwillingsschwester der getöteten Radfahrerin dem „Spiegel“ erzählt und auch ein ortskundiger Berliner Journalist festgestellt hat, mündet der Radweg kurz vor dem Unfallort wegen einer Baustelle abrupt in die mehrspurige, viel befahrene Straße, und es ist schwer, danach wieder zurück auf den Radweg zu kommen. Der Radweg sei außerdem eine Holperpiste, mit einem Rennrad praktisch nicht benutzbar.

In Berlin sind im Jahr 2021 zehn Radfahrende bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen, 602 wurden schwer verletzt. Auf Österreichs Straßen wurden im vergangenen Jahr 9617 Radfahrende bei Verkehrsunfällen verletzt und 50 getötet. Keiner dieser Unfälle bekam annähernd so viel Aufmerksamkeit wie der eine, für den man – wenn man dreimal um die Ecke denkt – Klimaprotestierende mitverantwortlich machen kann.

Nach dem Betonmischer-Unfall in Berlin drohte der deutsche Bundesjustizminister, Marco Buschmann (FDP), den Klimaaktivisten und -aktivistinnen mit Freiheitsstrafen. Auch Innenministerin Nancy Faeser (SPD) plädierte für eine „schnelle und konsequente Strafverfolgung“. Die konservative CDU/CSU-Fraktion forderte gar Mindestfreiheitsstrafen für Menschen, die durch eine Straßenblockade die Durchfahrt eines Einsatzfahrzeuges behindern.

Zum Vergleich: Ein Mann, der ebenfalls in Berlin im Oktober 2017 mit rund 70 km/h auf der Busspur an einem Stau vorbeifuhr und ein vierjähriges Kind tötete, wurde 2020 zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe und drei Monaten Fahrverbot verurteilt – und selbst das erst in zweiter Instanz, die erste hatte 200 Euro Geldstrafe und einen Monat Fahrverbot verhängt.

Ein SUV-Fahrer, der 2019 vier Menschen auf einem Berliner Gehweg tötete, darunter einen dreijährigen Buben, bekam im Februar 2022 ebenfalls eine zweijährige Bewährungsstrafe, dazu zwei Jahre Führerscheinsperre und 15.000 Euro Geldstrafe .

In Österreich sind die Urteile kaum härter: Für den Alkolenker, der im April 2022 auf einem Gehweg zwei Menschen tötete und einen weiteren schwer verletzte: immerhin sechs Monate unbedingt. Für den Autofahrer, der 2019 eine Ein- und eine Vierjährige in einem Fahrradanhänger tötete: 28.000 Euro Geldstrafe. Für den Mann, der 2019 in Niederösterreich einen Radfahrer tötete und Fahrerflucht beging: vier Monate bedingte Haft und eine Geldstrafe von 3220 Euro.

Für den Fahrer, der 2019 in Salzburg mit seinem Auto ein vierjähriges Mädchen tötete und eine 45-jährige Frau schwer verletzte: neun Monate auf Bewährung und 3960 Euro Geldstrafe.

Das Recht des Stärkeren

Wer sich in Österreich mit dem Rad fortbewegt, gerät mehrmals täglich in gefährliche Situationen, weil viele Autofahrende das Recht des Stärkeren für sich beanspruchen. Sie nehmen einem auf Radfahrüberfahrten den Vorrang. Sie überholen zu knapp – gern auch dann, wenn man in einer 30er-Zone 28 km/h fährt, oder direkt vor einer roten Ampel, an der man dann eine halbe Minute lang gemütlich nebeneinandersteht.

Sie öffnen Autotüren, ohne sich umzusehen („Dooring“) – allein dadurch wurden vergangenes Jahr in Österreich 227 Radfahrende verletzt und zwei getötet. Sie hupen oder lassen den Motor aufheulen, wenn man außerhalb der Dooringzone – jenes Bereichs ganz rechts, in dem einen jederzeit eine aufgehende Autotür treffen könnte – fährt und ihnen dadurch das sofortige Überholen verwehrt. Geduldig hinter einem ein- oder ausparkenden Auto zu warten ist für die meisten Autolenker kein Problem – finden sie sich hinter einer Radfahrerin wieder, kommt es auf jede Sekunde an.

Wem es in dieser Diskussion tatsächlich um das Leben und die Sicherheit von Radfahrenden oder die Verkehrssicherheit im Allgemeinen geht, und nicht nur um eine willkommene Gelegenheit, Klimaaktivisten und -aktivistinnen zu kritisieren, der sollte nicht harte Strafen für diese fordern. Sondern sich für mehr und bessere Radinfrastruktur einsetzen – und sich sein Anliegen in Erinnerung rufen, bevor er oder sie das nächste Mal unachtsam eine Autotür öffnet, einem Radfahrer die Vorfahrt nimmt, eine Radfahrerin ungeduldig anhupt oder zu knapp überholt. Damit der nächste Rettungseinsatz für eine Radfahrerin gar nicht erst nötig wird.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2022)

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