Glosse

Spotify-Jahresrückblick: Und wieder bin ich enttäuscht von mir

(c) Screenshot/Spotify
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Warum werden wir nervös, wenn wir den Spotify-Jahresrückblick öffnen? Warum regt sich Widerwillen? Es hat weniger mit dem Algorithmus zu tun als mit dem Selbstbild und so etwas wie Coolness.

Es klingt wie eine Drohung: „Im Jahresrückblick sehen wir uns dein Hörverhalten 2022 an“, kündigt mir Spotify schon vor Wochen in einer E-Mail an. Seitdem hat der Algorithmus unermüdlich gearbeitet, und nun ist es da, das musikalische Resümee dieses schwierigen Jahres. In grellen Farben laufen die Zahlen 2022 in der App von unten nach oben, locken und erzeugen gleichzeitig Widerwillen. „Schauen wir uns einmal an, wie dein Jahr so lief“, schreibt Spotify. Das Ergebnis ist ebenso überraschend wie entlarvend.

Fünf Songs habe ich in Dauerschleife gehört, am häufigsten „L'enfer“ von Stromae, weshalb der Belgier mein Lieblingskünstler des vergangenen Jahres ist. Dann schlägt der Streamingdienst vor, dass ich diese Information doch mit der ganzen Welt teilen solle. Danke, muss nicht sein.

Der Jahresrückblick ist wie immer eine Enttäuschung, denn hier zeigt sich sehr deutlich, dass das Selbstbild und das errechnete Fremdbild nicht unbedingt übereinstimmen. Denn es geht doch um diese eine Frage: Bin ich so interessant, wie ich gern wäre? Musik ist ein höchst persönlicher Bereich und derjenige, an dem sich die eigene Coolness besser messen lässt als an anderen. Wer prahlt nicht gern damit, das Talent einer Band oder von Künstler:innen früher erkannt zu haben als alle anderen?

Musikgeschmack ist gleichermaßen Aushängeschild wie hochsensibler Punkt einer Persönlichkeit. Wer will schon sein Innerstes nach Außen kehren, wenn andere in sozialen Medien darüber lachen könnten? Eltern haben eine Ausrede: Es waren natürlich die lieben Kleinen, die den Jahresrückblick versaut haben.

Dem Rest führt Spotify sehr deutlich vor Augen, dass man meist weniger cool ist als gedacht, weniger offen für Neues, weniger vielschichtig, sondern ein Gewohnheitstier. Berechenbar. Dass man Musik oft benutzt, um ein bestimmtes Gefühl zu erzeugen oder zu verstärken. Immer und immer wieder. Will ich so genau wissen, wie ich ticke? Oder lieber das Bild behalten, dass ich selbst von mir zeichne?

Was aber noch gesagt werden muss: „L'enfer“ ist ein richtig guter Song.

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