Zeitreise

Heute vor... im November: Zigarettenrauchen auf dem Mount Everest

Zigarettenrauchen in sehr großen Höhen, sagt Captain Finch, der Führer der Mount-Everest-Expedition, biete eine kaum glaubliche Erleichterung.

Neue Freie Presse am 30. November 1922, Abendblatt

Alkohol, Tabak und ähnliche Leidenschaften in Niederungen lebender Männer und Frauen werden gewöhnlich von Sportsleuten, Fliegern und Touristen gemieden, denn, so sagen sie, der Körper, der sich an diese Gifte gewöhnt habe, sei Strapazen gegenüber, den unvermeidlichen Begleiterscheinungen körperlicher Leistungen, weniger widerstandsfähig. Um so interessanter sind die Erfahrungen, die Captain G. Finch, der Führer der Mount Everest-Expedition, in einem jüngst in London in der Geographischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag über die Besteigung dieses Riesenberger mitgeteilt hat.

Zigarettenrauchen in sehr großen Höhen, sagt Captain Finch, biete eine kaum glaubliche Erleichterung. Als er mit zwei Kameraden in einer Höhe von 25.000 Fuß kampierte, hatten sie unter beengendem Luftmangel zu leiden. In ihrer Verzweiflung zündeten sie sich eine Zigarette an und waren verblüfft von der Wirkung. Nach einigen tiefinhalierten Zügen fanden sie sich derart erleichtert, daß die Frage, ob man atmen könne, keine "Frage" mehr für sie war. Die Funktionen der Lunge sanken zur normalen Selbstverständlichkeit herab, die das Denken nicht belasteten, weil sie sich glatt in den Kreis des Natürlichen fügten.

Leicht und ohne Beschwerden arbeiteten die Atmungsorgane wieder und hörten damit auf, ungewohnte Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Vierfache Unterkleidung und ein stark mattierter Mantel hatten gegen die intensive Kälte zu schützen. Captain Finch fügte hinzu, er sei vollkommen überzeugt, daß nach den gewonnenen Erfahrungen der nächste Angriff auf den Everest den Sieg bringen werde. Professor Haldane führt die von den Everestforschern mitgeteilten Beobachtungen des Zigarettenrauches auf das mit dem Rauch entwickelte Kohlenoxyd zurück. Er halte es für möglich, erklärte er, daß in großen Höhen etwas Kohlenoxyd erleichternde Wirkung auf die Atmungsorgane ausübe.

 

Die Hinrichtung der griechischen Minister

Eine unerhörte Mordtat der Offiziersregierung. Die griechische Revolutionsregierung hat sich in der furchtbarsten Weise mit Blut befleckt.

Neue Freie Presse am 29. November 1922, Abendblatt

Die Hinrichtung der verurteilten Minister des letzten Kabinetts des Königs Konstantin ist ein schrecklicher Rückfall in die ärgste Barbarei. Nicht aus der Leidenschaft einer Volksbewegung heraus ist hier ein politisches Attentat geschehen, sondern in kühler und nüchterner Weise und im vollen Bewußtsein des Mordes, der damit begangen wird, haben die Offiziere, die heute in Athen ein Schreckensregiment führen, die Massenhinrichtung der unbequemen politischen Gegner angeordnet.

Ministerpräsident Gunaris war der Führer der antivenizelistischen Partei und eine der besten und geachtetsten Erscheinungen des griechischen Parlaments, als dessen erster Redner er galt. Gunaris war während des Krieges der Fürsprecher der Neutralitätspolitik. Von seinen Schicksalsgenossen ist Stratos am meisten hervorgetreten, aber auch der namentlich hier in Wien wohlbekannte Theotokis hat in der Kriegszeit als Anhänger der Richtung von Gunaris eine Rolle gespielt. Mit den Ministern ist auch der Obergeneral der griechischen Armee hingerichtet worden, den man für die Niederlagen in Kleinasien verantwortlich machte.

Der Eindruck der Schreckenstat muß in der ganzen Welt der allerstärkste sein. Die englische Regierung hat sich aufs entschiedenste bemüht, das Leben der Verurteilten zu retten, und sie hat durch ihren Gesandten unter Drohung des Abbruches der diplomatischen Beziehungen mehrere Schritte unternehmen lassen.

 

Das osmanische Reich ist Geschichte

Über die Flucht des entthronten Sultans aus Konstantinopel.

Neue Freie Presse am 28. November 1922

Ueber die interessanten Geschehnisse, die sich in den letzten Tagen am Bosporus abspielten, wird dem „Malin" berichtet, daß die Flucht des Sultans Mehmed VI. vorbereitet war und daß es trotzdem gelang, sie geheim zuhalten, Dor vierzehn Tagen war zwar die Ab­reise in der französischen und englischen Presse vorausgesagt worden, die Prophezeiung fand aber im Lande selbst keinen Glauben. Die Besuche des Generals Harington, des Kommandierenden der Ententetruppen in Konstantinopel, im Iildis-Kiosk hatten einen anderen Zweck als die Vorbereitung der Abreise, von der man freilich nicht wußte, daß sie sich fluchtartig gestalten werde.

 Erst am 15. November, als die Nachricht einlangte, daß die Nationalversammlung von Angora über den Sultan den Anklagezustand verhängen wolle, ließ er durch seinen vertrauten Freund, den Hauptmann Ziki Bey, den Chef der kaiserlichen Musikkapelle, die englische Mission von seinem Entschlusse, abzureisen, in Kenntnis setzen.

General Harington forderte eine schriftliche Verständigung, dir er auch am Morgen des nächsten Tages erhielt. Das Ansuchen um britischen Schutz war unterzeichnet mir „Mehmed, Kalif der Gläubigen". Im Sultanspalaste mußten nur drei Personen von dem Plan. Im Lause des 16. November stoppelten die Diener des Palastes große, mit Kleidern und Wertgegenständen gefüllte Koster auf; aber auch dies wurde nicht sonderlich beachtet, weil der Sultan schon an den vorher­ gehenden Tagen seine Gemächer hatte ausräumen lassen.

Im Laufe des Nachmittags teilte einer der Sekretäre des Sultans der Palastverwaltung mit, daß der Herrscher die Nacht im Merassimpalast, einer Dependance des Iildis-Kiosk, verbringen wolle; in dieser Dependance wohnen gewöhnlich die in Konstantinopel zu Gaste weilenden fremden Souveräne und Fürstlichkeiten. Man nahm an, daß der Sultan sich vor einem Handstreich aus seinen gewöhnlichen Palast fürchte, und ließ in Eile die Dependance Heizen und in Ordnung bringen. Gegen 9 Uhr abends begab sich der Sultan mit seinem sechsjährigen Sohne, seinem ersten Kammerherrn, dem Leibarzt, dem Hauptmann Ziki Bey, dem ersten und zweiten Mussahib, Vertrauten seiner Majestät, dem Barbier und zwei Eunuchen in das Merassimpalais, das sie alle um 6 Uhr morgens verließen.

Es galt nun, ohne bemerkt zu werden, durch die Gartenanlagen hindurch zu kommen, um zum Mallator zu gelangen, dem Einzigen von den 18 Toren, das sich dem Sultan öffnete; die Schlüssel aller Gartentore waren in der Hand der neuen Gewalthaber Konstantinopel, mitr Ausnahme eines einzigen Schlüssels, der sich seit einem Jahre in der Verwahrung eines Palasteunuchen befand, um den Schloßbediensteten den Austritt aus dem Palast zur Besorgung der täglichen Geschäfte und Ein­käufe möglich zu machen; und gerade dieser Palasteunuche ge­hörte zu der Begleitung des Herrschers.

Unter dem Schutze der Nacht, die noch um 6 Uhr den Garten umhüllte, wurde das Maltator vom Sultan, dem kleinen Prinzen und ihren acht Begleitern erreicht, bereitstehende Automobile wurden rasch mit den Koffern beladen und in größter Schnelligkeit wurden die zehn Menschen zum Palais Dalma Baghtsche,, dem weißen Wunderwerk am Ufer des Bosporus, gebracht; hier wartete ihrer General Harington, der sie aus die bereitliegende Vedette des Admirals Brock brachte, und nach wenigen Minuten betrat der Sultan mit seinem Gefolge die Schifsstreppe des englischen Kriegsschiffs Malaya, welches sofort die Anker lichtete.

Anmerkung: Am 19. Oktober 1922 zogen Mustafa Kemals Truppen in Istanbul ein. Am 15. November 1922 verlässt Mehmed VI., der letzte Sultan der Osmanen, gemeinsam mit seiner Familie durch einen Hinterausgang seinen Palast in Istanbul. Er lässt sich zu einem der abziehenden britischen Schlachtschiffe bringen und segelt ins italienische Exil. Das Osmanische Reich ist endgültig Geschichte.

 

Ein französisches Dorf leistet Widerstand

Es läuten die Sturmglocken, es wird Abschied genommen!

Neue Freie Presse am 27. November 1932

Aus Paris wird uns berichtet: Das Dorf Avillers in den Bogesen in der Nähe von Epinal hat gestern eine private Mobilmachung inszeniert. Bei dem Postamt war gestern das Geheimschreiben des Generalrates und die im Mobilmachungsfall zu treffenden Verordnungen eingetroffen. Der diensttuende Beamte öffnete das Schreiben und nahm mit wachsendem Entsetzen von dessen Inhalt Kenntnis.

In fliegender Eile stürzte er auf die Bürgermeister und teilte dort die Mobilmachungsorder mit. Der Gemeindebedienstete wurde nach der Kirche geschickt, um die Sturmglocke zu läuten.

Der Feldhüter band sich die Trommel um und alarmierte die gesamte Bevölkerung. Die Reservisten packten ihre Sachen zusammen, nahmen  Abschied von ihren Familien und fuhren mit dem nächsten Zug zum Bezirkskommando von Mirecourt, wo ihr Erscheinen keine geringe Aufregung hervorrief.

 

Blumen aus Leopardenfell

Hawaii, die Insel der Blumen, Japan, das Land der Blüten, wird in der Pariser Frauenmode heimisch.

Neue Freie Presse am 26. November 1932

Aus Paris wird uns geschrieben: „Und vergessen Sie nicht die Blume!“ meint die elegante Frau, die eben ein wunderschönes gewickeltes Abendkleid aus Panne bestellt hat, das seinem komplizierten Schnitt keinerlei Garnierung zugesteht. Und auch die sportbeflissene junge Dame, die auf Rollkragensweater und Raglanmantel schwört, verlangt Blumen: „Ein Kollier aus Lederblumen, zum Beret passend. Und auch irgendetwas für die Handschuhstulpen. In ihrem Bestreben, der Mode, die her e Linien bevorzugt, das Element der Anmut beizumischen, entdeckten die Frauen den hübschesten Schmuck, den ihnen Natur und Kunst zu bieten vermag: die Blume.

Blumen in Hülle und Fülle. Hier bewundert man eine Blumengirlande, in allen Schattierungen der Modefarbe aus Veilchen geflochten, die sich um den viereckigen Ausschnitt eines Abendkleides aus weißem Samt schmiegt. Der violette Mantel trägt einen weißen Pelzkragen, aus dessen hohem Fell ein schattiertes Bukett frischer Veilchen leuchtet. Sogar an den Pantoffeln werden kleine Kunstblumensträußchen angebracht. 

Man hat nun die Wahl, ob Frühlingsblüten, roter Mohn oder matte Rosen die Hausschuhe verzieren, von denen man über die hellrosa Filzbespannung des Schlafzimmers und über den blaugelben chinesischen Teppich des Boudoirs geht. (…) Denn nicht nur das Kleid, auch der Raum der Frau soll im Zeichen der Blume stehen. Bekanntlich spielt jetzt das „Fensterchen“ auf dem Kleid eine wichtige Rolle. Wie entzückend ist es, diese kleinen Oeffnungen mit Blumen zu umsäumen oder über den entblößten Rücken der Ballrobe Blumenranken und Blumenketten zu legen. 

Hawaii, die Insel der Blumen, Japan, das Land der Blüten, wird in der Pariser Frauenmode heimisch. Auf einem rauhen gestrickten Kleid, das aussieht, als sollte es eine Eskimofrau vor dem nordischen Winter schützen, werden Blumenknöpfe angebracht. Und zwar aus Leopardenfell. Fleckige, haarige Pelzblumen, für die dem starken Material zuliebe die einfache Form der Glockenblume gewählt wurde.

 

Päpstlicher als der Papst

Den “kleinen Feiertagen” soll es an den Kragen gehen.

Neue Freie Presse am 25. November 1922

Der Niederösterreichische Gewerbeverein hat neuerdings die so oft angeschnittene Frage des Abbaues der Feiertage aufgeworfen und stellt an Regierung und Nationalrat das nur allzu berechtigte Verlangen, sie sollten alles, was in ihrer Macht steht, dazu tun, damit an den sogenannten "kleinen Feiertagen" wie an gewöhnlichen Wochentagen gearbeitet werde.

Weihnachten, Ostern und Pfingsten in allen Feiertagsehren. Desgleichen Neujahr, Fronleichnam und Allerheiligen. Im übrigen jedoch wird auf das Motus propis des Papstes aus dem Jahre 1911 verwiesen, das vom kirchlichen Standpunkt aus gegen die Arbeit an kleinen Feiertagen keine Einwendung erhebt. Der oft gemachte Vorschlag wird wiederholt, gleichwie in anderen katholischen Ländern, die betreffende Feier auf den folgenden Sonntag zu verlegen. Was vielfach den Kollektivverträgen gemäß seit geraumer Zeit schon in Fabrik und Werkstatt recht ist, soll auch in Aemtern, Banken und Schulen billig sein. Unsere Volkswirtschaft verträgt einfach nicht länger, daß wir uns selbst ohne Nötigung regelmäßig wiederkehrende Aderlässe zufügen, und der Zustand ist unhaltbar, daß wir einzig und allein, was die Zahl der obligatorischen Feiertage anlangt, des sei es zur staatsbürgerlich-republikanischen, sei es zur religiöen Pflicht erhobenen Faulenzertums triumphierend an der Spitze aller Nationen marschieren.

Die katholischen Rheinlande, die wahrlich, was Frömmigkeit und Glaubensstärke anlangt, sich mit uns messen können, bleiben um acht Feiertage hinter Oesterreich zurück. England und Amerika aber zählen 12 bis 15 Arbeitstage mehr als unser armes, so oft in der Rolle des Bittstellers gedrängtes Land. Der heilige Leopold beispielsweise wird es den Niederösterreichern sicherlich nicht verübeln, wenn sie die Erinnerung an ihn mit dem Gedenken des Gründungstages der Republik vereinigen. Je mehr Tage im Kalender rot angestrichen sind, desto schwärzer sieht es mit unseren Sanierungsmöglichkeiten aus.

 

Heute vor 100 Jahren: Picasso größerer Maler als Raffael

Ein Ranking in der Vanity Fair sorgt für Aufsehen.

Neue Freie Presse am 24. November 1922

Eine amerikanische Zeitschrift, die nach Thackerons Buche "Vanity fair" heißt, hat einen neuen Weg eingeschlagen, um zu kritischen Bewertungen zu kommen. Sie ließ zehn junge Kritiker ihr Urteil über 200 der bekanntesten Meister der Kunst und Politik aller Zeiten abgeben. Die Beurteilung geschah nach Art der biometrisch-biologischen Berechnungen, wie sie schon die Dadaisten angewandt haben:

jeder Name wurde mit einer Indexziffer von Plus 25 bis Minus 25 bewertet. Auf diese Weise hoffte man die Ansicht der sich bahnbrechenden neuen Schule über allgemein historische oder aktuelle Fragen, wie klassische Kunst und Philosophie, moderne Malerei und Musik, internationale Politik der Gegenwarwt, Weltkrieg Kapital und Arbeit usw. festzulegen.

Das Ergebnis brachte manche Ueberraschung: Cèzanne, Matisse und Picasso wurden für größere Maler als Raffael, Giorgione und Ingres erklärt, Ludendorff für größer als Foch, Lenin ist der bedeutendste Staatsmann, Wilson steht um 25 Punkte höher als Roosevelt, aber beide auf der Minusseite. Arnold Schönberg und Max Dowell werden unter den Komponisten von Irving und Berlin überragt. Nietzsche ist der größte Philosoph aller Zeiten, und Paulus kann sich mit Augustin und dem heiligen Franz nicht vergleichen.

Heute vor 100 Jahren: Die Wohnung um 600 Millionen Kronen

Je heiratslustiger einer ist, desto trauriger sieht es gewöhnlich mit der Lösung der Wohnungs­frage aus.

Neue Freie Presse am 23. November 1922

Ein Junggeselle schreibt uns: „Wer Sorgen hat, der hat bekannt­lich auch Likör. Aber wer heute Heiratssorgen hat, dem bleibt nicht einmal der Trost: jetzt komme ich endlich in eine geordnete, behagliche Häuslichkeit, denn je heiratslustiger einer ist, desto trauriger sieht es gewöhnlich mit der Lösung der Wohnungs­frage aus.

Eine nette und nicht zu umfangreiche Frau bekommt man bald und sogar meistens ganz umsonst, aber für die kleinste Wohnung werden ungeheuerliche Ablösebeträge verlangt. Und da ja weder Flitterwochen in der Garconwohnung, noch im schwiegerelterlichen Heim das Richtige sind, habe ich mich bisher von allen Heiratsabsichten im letzten Moment immer wieder gern abschrecken lassen. Aber dieser Tage habe ich von einem Bau­projekt erfahren, das aus meine Heiratsprojekte ungemein an­regend gewirkt hat. Es stammt von einem Architekten, der, ehr­geizig und edel, wie Baumeister Solneß, Wohnstätten für Menschen errichten will.

Dieser Architekt geht daran, ein großes, modernes Wohnhaus mit allem erstklassigen Komfort zu bauen. Für die Vermietung der Wohnungen wird kein Zins und keine Ablösung gefordert, sondern bloß eine Beteiligung an dem Bau. Eine Wohnung kostet ungefähr 600 Millionen, und wer diesen Betrag erlegt, wird Mitbesitzer des Hauses und Wohnungsinhaber aus ewige Zeilen. Er kann sogar die bauliche Einteilung der Ausstattung der Wohnung nach seinen speziellen Bedürfnissen, nach seinem Geschmack selbst angeben. Natürlich haben sich schon sehr viele Reflektanten gemeldet, und merkwürdigerweise sind darunter einige Junggesellen, die gar nicht verlobt sind und nicht einmal noch die halbwegs Nichtige gesunden haben.

Die bloße Chance, eine schöne, elegante Wohnung zu bekommen, hat aus diese Junggesellen so animierend gewirkt, daß sie sich im Prinzip sofort zum Heiraten entschlossen haben. Das Wichtigste für ein Eheglück ist vorhanden, Möbel sind auch leicht zu gaben, ein Telephon bekommt man ebenfalls unter jener Hand, die die andere wäscht, es fehlt also nur noch die zur Wohnung und der Einrichtung passende Frau. Aber auch die wird zu finden sein, bis das Haus fertig gebaut ist, denn ein Mann, der bloß für die Wohnung 600 Millionen ausgeben kann, wird bald um seiner selbst willen geliebt.

Eine Wohnung wäre in dem Haus noch zu haben, und obwohl mir zu solchen Illusionen leider jede finanzielle Berechtigung fehlt, kokettiere ich fortwährend mit dem Gedanken, mir diesen aus sieben Zimmern und sechs Nullen bestehenden häuslichen Herd zu sichern, und unwillkürlich sehe ich mir jedes Mädchen daraus an, ob sie sich zur Dame eines so kostspieligen Hauses eignet. Aber ich suchte, bei der gegen­wärtigen allgemeinen Baisse und Geschäftslosigkeit werde ich eher 600 Bräute, als 600 Millionen finden. Und wenn ich wirklich unverhofft in den Besitz von 600 Millionen komme, hab' ich dann überhaupt noch einen vernünftigen Grund, zu heiraten?

 

Wenn ein Arzt am Bahnhof Bier verkauft

….dann hängt ordentlich etwas schief im Staate. Und das gehört aufgeräumt!

Neue Freie Presse am 22. November 1922

Ein großer Wiener Publi­zist, der größte kann man ruhig sagen, pflegte gelegentlich zu erklären: „Und wenn man von nur verlangt, ich solle die Stiegen ausräumen, so werde ich die Rockärmel aufstrecken und es tun." Wer diesen Mann kannte, der wußte, daß solcher Aus­spruch nicht nur bildlich gemeint war. In den letzten Jahren hat jedoch der Respekt vor jeder notwendigen Arbeit, den das zitierte Wort atmet, sichtlich nachgelassen. In manchen Kreisen wenigstens. Sonst wäre es nicht notwendig gewesen, daß das Wiederausbaugesetz ausdrücklich festgestellt: Aufräum- und Reinigungsarbeit schändet nicht! Bundesangestellte, die auf Dienerposten verwendet werden, sind auch zu Dienerverrichtungen heranzuziehen. Wer da geglaubt hätte, daß derlei selbstverständlich sei, hat die Entwicklung der jüngsten Vergangenheit und ihre Errungenschaften gründlich verschlafen.

Für solche Arbeiten wurden nämlich Hilfskräfte ausgenommen und besorgten sie so lange, bis auch ihnen der Beamtencharakter zuerkannt worden ist, worauf man Diener der bisherigen Diener anstellte und der­art die Schraube ohne Ende weiterdrehte. Der Begriff des Standeswidrigen ist eben einfach in andere Kreise der Gesellschaft übersiedelt. Heute lesen wir von der Not der deutschen Aerzte und Rechtsanwälte und erfahren, daß ein Arzt, um sein Leben zu fristen, unbeschadet seines Doktortitels im Anhalterbahnhofe in Berlin zur Nachtzeit Bier und Würstel verkaufte.

Neben dem Mitleid mit diesem Mann, dem das, was er gelernt hatte und was er konnte, das trockene Brot nicht zu gewährleisten vermochte, empfindet man unwillkürlich die größte Hochachtung vor ihm, die einem förmlich den Hut vom Kopse reißt, und wenn man gleichzeitig vernimmt, daß sich die ärztliche Standesvertretung eingemischt hat, so kann man nicht umhin, darin eine ebenso veraltete wie ärgerliche Geschaftlhuberin zu erblicken.Der Kopfarbeiter hat notgedrungen viel Wasser in den Wein seines Standesbewußtseins getan und seine Begriffe von Standeswidrigem gründlich revidiert. Dagegen hat es den Anschein, als ob andere Mitbürger um dieselbe Zeit höchst wehleidig und empfindlich geworden sind und daß ihnen der Beamtencharakter ganz bedenklich zu Kopf gestiegen ist. Man wird im Finanzausschüsse ehrlichen Tank dafür wissen, daß er unumwunden ausgesprochen Hai, die gesetzliche Arbeitszeit müsse voll ausgenützt werden und eine Verwendung auf bestimmten Posten könne unmöglich eine Beleidigung der betreffenden Angestelltenkategorie beinhalten. 

Wir sind nachgerade mißtrauisch geworden gegen gute Nachrichten und ängstlich bedacht, aufdämmernden Hoffnungen im vorneherein einen gehörigen Dämpfer aufzusetzen. Aber bei aller Vorsicht im Urteil darf man dennoch konstatieren, daß sich hie und da bereits praktische Ansätze zur Vernunft zeigen und der in die Tat umgesetzte Wille, von dem Lotterbett, auf dem sich unser ganzes öffentliches Leben allzu lange abgespielt hat, endlich aufzustehen. Da wird uns er­zählt, daß im Ministerium des Aeußern auf dem Ballplatz mit einem vortrefflichen Beispiel vorangegangen werde, daß man dort angesichts der Kohlenpreise ganz gehörig zusammengerückt sei und daß die Prachtzimmer, in denen dereinst Fürst Clemens Metternich die Geschicke der Großmacht Oesterreich leitete, für die Winter­monate einfach zugesperrt worden sind.

Es ist eine gesunde Er­kenntnis, daß die Großzügigkeit der Politik, die man verfolgt, mit der Größe des Empfangszimmers des Ministers nur im ungemein losen Zusammenhang steht, und angesichts der ungeschwächten Fortdauer der Wiener Wohnungsnot würde man sich sogar direkt mit einer Kabinettspolitik in allen öffentlichen Aemtern bereitwillig und leicht befreunden.

 

Tanzschulkrise in Wien

Aus den Wiener Tanzschulen ist durch die Lustbarkeitssteuer alles Lustbarkeit verscheucht worden.

Neue Freie Presse am 21. November 1922

Vom den fröhlichen Gewimmel unentwegt foxtrottender Paare, die während der letzten Winter in den Tanzschulen einen Faschingsersatz suchten und fanden, ist heute nichts mehr zu merken. Daß diese Entvölkerung der Tanzschulen, von denen einige diese Saison voraussichtlich nicht überleben werden, tatsächlich eine Folge der Lustbarkeitssteuer ist, zeigt sich in folgendem Paradoxon:

Der häusliche Privatunterricht in modernen Tänzen hat zugenommen, weil er durch Vermeidung der Lustbarkeitssteuer billiger ist, als etwa eine Privatstunde in einer Tanzschule. Wird diese beispielsweise mit 20.000 K. berechnet, so erteilt der Tanzlehrer häuslichen Unterricht um 12.000 K., obwohl er Zeitverlust und häufig auch Fahrspesen hat. Um die Kinderkurse, die fast vollkommen aussterben, ist es sehr schade, da es nichts Reizenderes gab, als die Aufforderung zum Tanz, bei der sich die kleinen Buben ritterlich wie die Erwachsenen und dabei tolpatschig wie die Waschbären vor den mit zierlicher Koketterie knixenden Mäderln verbeugten. Noch eine Spezialität ist durch die Krise ausgerotten worden: das Mauerblümchen ...

Es gibt kein Mauerblümchen mehr - oder, genauer gesagt, eine Tänzerin muß schon eine ganz besondere Karikatur sein, um heuer keinen Tänzer zu finden. Diese Erscheinung hängt nicht etwa mit einer Umwertung aller Werte zusammen, sondern sie ist eine Folge der Tatsache, daß heuer die meisten Tanzschulen einen sehr beträchtlichen Männerüberschuß aufzuweisen haben. Zahlreiche junge Beamtinnen, denen ihr Monatsgehalt den Tanzschulbesuch ermöglichte, sind durch den Abbau wieder vom Elternhause wirtschaftlich abhängig geworden und können sich keine Tanzstunde mehr leisten, da es sich ja nicht nur um die 50.000 bis 120.000 K., die der Kurs kostet, sondern auch um ein hübsches Kleid, um Tanz- und Handschuhe handelt.

Uebrigens sind die Handschuhe heuer keineswegs obligat: der Mittelstand tanzt heuer ohne Handschuhe, sogar ohne Zwirnhandschuhe - von den Glacéhandschuhen ganz zu schweigen. Aber die Jugend unterhält sich auch ohne Handschuhe sehr gut, und das junge Mädchen in Rock und Bluse gefällt dem Studenten im Sakko nicht weniger gut, als die Dame in rauschender Abendtoilette dem Herrn im Frack auf dem Nobelballe. Auch der Student, der früher Stammgast der Tanzschulen war, ist heute infolge des Studentenelends eine Ausnahmeerscheinung geworden. Von der ganzen Hochschuljugend vermögen sich jetzt fast nur noch die Couleurstudenten den Tanzschulbesuch zu vergönnen.

Da der Klavierspieler etwa 4000 bis 6000 K. für die Stunde verlangt, behelfen sich "zahlreiche Tanzschulen ohne Klavierspieler, und ab und zu opfert sich ein Herr oder eine Dame aus dem Publikum, um mit Todesverachtung einen Shimmy oder Onestep zu hämmern. Noch immer sind die modernen Tänze Trumpf, aber sie werden heuer viel ruhiger, maßvoller getanzt als früher - ihre Exotik ist ausgeraucht, und der Tango, noch vor acht Jahren der Inbegriff orgiastischer Ruchlosigkeit, wirkt heuer sogar schon ein bißchen hausbacken und man sehnt sich bei seinem Anblick wahrhaftig nach den zügellosen Ausschweifungen einer Gavotte, eines Menuetts oder einer Quadrille.


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