Erstmals seit Jahrzehnten haben in China zahlreiche junge Menschen gegen die politischen Verhältnisse aufbegehrt. Mit Lockerung der Corona-Maßnahmen und massiver Repression hat Peking die Proteste verstummen lassen – vorerst.
Die jungen Pekinger halten ein leeres Blatt Papier vor ihre Brust. Die Botschaft versteht jeder der Anwesenden sofort. „Wir wollen Freiheit, wir wollen Menschenrechte!“, schreit die Menge, die sich zu Hunderten, möglicherweise Tausenden am Pekinger Liangma-Fluss versammelt hat. Viele der Demonstranten haben ihre Anti-Corona-Masken abgelegt – und damit auch die Furcht vor den Überwachungskameras und anwesenden Zivilpolizisten. Diese bleiben vorerst auf Distanz, schreiten nicht ein. Noch nicht. Erst am nächsten Tag schlägt die staatliche Gewalt mit voller Wucht zurück. Am Ort des Geschehens patrouillierten Polizisten in Mannschaftsstärke, und im Radius von mehreren Kilometern wachten an den Straßenkreuzungen Beamte in Zivil. Selbst aus der Ferne sind sie leicht zu erkennen: an ihren weißen N95-Coronamasken, die die Regierung an ihre Bediensteten ausgegeben hat.
Und so blieben die ersten politischen Proteste in der chinesischen Hauptstadt seit den 1990er-Jahren notgedrungen nur ein kurz aufflackerndes Schlaglicht. Sie haben aber die kritischen Stimmen sichtbar gemacht, die unter Staatschef Xi Jinping bislang stumm geblieben sind.