Interview

Wolfgang Schäuble übt Selbstkritik an Umgang mit Putins Regime

"Jeder versucht es nach besten Kräften. Ich bin aber nicht der Schiedsrichter."
"Jeder versucht es nach besten Kräften. Ich bin aber nicht der Schiedsrichter."Marcus Wend
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Das CDU-Urgestein Wolfgang Schäuble über Fehler im Umgang mit Russland, deutsche Alleingänge und seine Sorge um die Demokratie.

Herr Schäuble, Sie sind einer der wenigen prominenten deutschen Politiker, die eingestehen, bei Putins Regime nicht gut genug hingeschaut und Warnungen ignoriert zu haben. Wie erklären Sie sich das?

Wolfgang Schäuble: Das war in der ganzen westlichen Welt so. In Deutschland hatten wir unsere besondere Erfahrung gemacht. Der Wechsel zu Präsident Gorbatschow mit den Reformen hat uns die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit und die Überwindung des Kalten Krieges ermöglicht. Nach dieser wunderbaren Entwicklung hatten wir gehofft, zu einem partnerschaftlichen Verhältnis mit Russland zu kommen. Das sah in der Ära Jelzin so aus. Dann haben wir nicht genügend wahrgenommen, dass mit dem Wechsel von Jelzin zu Putin eine Änderung kam. Putin sagte in einer Rede, der Zerfall der Sowjetunion sei die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen. Wir hätten es wissen können, wenn wir es hätten wissen wollen.

Sie sprechen von einem Fehler.

Ich zitiere die frühere Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, die gesagt hat: Ich bin so wütend auf uns. Wir haben alles gewusst und wir wollten es nicht sehen.

Woher kam der Wunsch, es nicht zu sehen?

Weil wir gehofft haben. Manfred Wörner war um 1990 Nato-Generalsekretär, er unterstützte eine Politik der Partnerschaft mit Russland. Das ging schief mit der Transformation in Russland, die nicht gut gelungen ist, weil die Oligarchen furchtbar reich und die breite Bevölkerung nicht wohlhabender geworden ist. Das war der Boden, auf dem eine Diktatur entstanden ist, die im Wesentlichen von einer alten Seilschaft aus dem KGB gesteuert wird. Putin ist ein Repräsentant dieser Gruppe.

In welcher Rolle sehen Sie Deutschland heute in dieser großen europäischen Krise?

Die deutsche Rolle könnte besser sein. Wir werden kritisiert wegen Alleingängen in der Vergangenheit. Deutschland ist in der EU das bevölkerungsreichste und das wirtschaftsstärkste Land. Wir hängen am meisten davon ab, dass es Europa gut geht. In der Abhängigkeit von Russland, was die Gasversorgung betrifft, haben wir gegen die Meinung der anderen Europäer gehandelt.

Auch gegen Ihre, Sie waren früh gegen die Gas-Pipeline Nord Stream 2.

Ich habe es immer für falsch gehalten, wenn wir Alleingänge machen. Wir haben die Aufgabe, mit den anderen europäischen Partnerländern zusammenzuhalten, Ost und West. Weil es auch in unserem nationalen Interesse liegt.

Wie erleben Sie die Haltung der deutschen Bevölkerung zu diesem Krieg?

Nicht alle Menschen haben verstanden, dass Putin den Krieg nicht gegen die Ukraine führt, sondern gegen die europäische Werteordnung. Die empfindet er als Bedrohung, weil unsere Vorstellung von Demokratie eine hohe Anziehungskraft für Menschen in seinem Land hat. Unsere Werte erfreuen sich hoher Attraktivität überall dort, wo die Menschen sie nicht haben. Das gilt für die Türkei, für die arabischen Länder, den Iran. Was wir in diesen Tagen in China erleben, hätte kein Mensch für möglich gehalten. Wir Europäer sollten nicht so kleinmütig sein und unsere Werte offensiver vertreten. Das heißt auch, uns selbst daran zu halten.

Muss die Politik den Menschen besser erklären, worum es in der Ukraine für sie geht?

Vor allem muss sie führen. Sie kann nicht nur den Eindruck erwecken, zu versuchen, den Menschen alle Wünsche zu erfüllen. Genau das kann sie nicht, weil alles knapp ist. Sie muss Verantwortung tragen und eine Vorstellung haben, wohin die Reise geht. Das nennt man politische Führung.

Sehen Sie die gerade im Kanzleramt?

Jeder versucht es nach besten Kräften. Ich bin aber nicht der Schiedsrichter.

Sie betonen in letzter Zeit oft, wie sehr Sie sich um die Demokratie sorgen.

Demokratie ist nicht etwas, das die Menschen einfach konsumieren. Sie funktioniert nur, wenn man sich für die Demokratie engagiert. Das ist eine der großen Herausforderungen.

Kann der Krieg Russlands ein Weckruf sein?

Krisen sind immer auch Chancen. Solang es uns gut geht, ist die Bereitschaft gering, etwas zu verändern. Es entsteht diese Neigung: Läuft doch ganz gut, dann lassen wir es so, wie es ist. Machen wir das noch ein bisschen perfekter, dann wird es noch etwas bürokratischer. Am Schluss sind wir so perfekt, dass wir gar nichts mehr hinkriegen. Das ist vor allem in Deutschland ein großes Problem.

Ein deutscher Kollege sagte einmal: Deutschland ist in die Gegenwart verliebt.

Wenn man sich die letzten 80 Jahre ansieht, kann man verstehen, wenn die Leute sagen: Hauptsache, es bleibt, wie es ist. Ich bin 1942 geboren. Meiner Generation, meinen Kindern und Enkelkindern ist vieles erspart geblieben. Jetzt sieht man, dass nicht alles so einfach ist. Wenn die junge Generation sagt, wir können bei der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen nicht so weitermachen, muss man sehen: Der Club of Rome hat seinen ersten Bericht zu den Grenzen des Wachstums im Jahr 1972 vorgelegt.

Da kamen Sie erstmals in den Bundestag.

Wir haben die Konsequenzen aus dem Bericht nicht ausreichend gezogen.

Was halten Sie von den Klebeaktionen mancher Klimaaktivisten?

Druck zu machen, damit mehr geschieht, ist richtig. Aber die Mittel, den Straßenverkehr oder den Flugverkehr lahmzulegen, schaden dem Anliegen. Der gute Zweck heiligt nicht alle Mittel.

Der CDU-Generalsekretär fordert Präventivhaft, in Bayern wird sie schon eingesetzt.

Ich habe mir abgewöhnt, mich ständig zu aktuellen Diskussionen zu äußern. Ich bin kein großer Anhänger von Präventivhaft, nie gewesen. Ansonsten will ich das nicht kommentieren.

Ist es schwierig, den Leuten zu sagen, sie müssen wegen des Klimas verzichten?

Wenn die Welt sich ändert, Energie knapper wird, müssen die Menschen nicht freiwillig verzichten, sondern wir müssen ihnen sagen, es wird teurer.

Sie haben gesagt, die Leute sollen halt zwei Pullover anziehen, wenn es kalt wird.

Man sollte hier einfach nicht vergessen, was die Menschen in der Ukraine auszuhalten haben.

Als sie 1972 in den Bundestag einzogen, hatte die CDU gerade eine Niederlage erlitten. Was soll die Partei nun nach dem Verlust der Kanzlerschaft machen, um dauerhaft über 30 Prozent zu kommen?

Ich gebe meiner Partei keine Ratschläge über ein Interview in einer österreichischen Zeitung. Was zu tun ist, um die nächste Wahl zu gewinnen, muss jetzt von anderen angestoßen werden. So haben wir das vor 50 Jahren gemacht und waren dann mit Helmut Kohl auch ganz erfolgreich. Wir haben damals nicht darauf gewartet, dass uns die 80-Jährigen sagen, was wir jetzt machen müssen.

War es ein Fehler, Armin Laschet als Kanzlerkandidaten aufzustellen?

Das war eine demokratische Entscheidung und die CDU-Mitglieder wissen, dass ich einen anderen Kandidaten bevorzugt habe. Aber was entschieden ist, gilt, sonst ist man kein Demokrat.

Sollte Friedrich Merz für die nächste Wahl als Kanzlerkandidat antreten?

Ich bin der Meinung, dass wir die Debatte jetzt nicht führen.

Sie haben im „Handelsblatt“ gesagt, sie könnten noch nicht beurteilen, ob Angela Merkel eine der großen Kanzlerinnen war. Warum?

Wenn man über die Frage, ob Helmut Kohl ein großer Kanzler war, ein Jahr nach dem Ende seiner Kanzlerschaft urteilt, wäre die klare Meinung gewesen, er sei keiner. Heute wird das nicht mehr bestritten. Ich habe einmal eine Arbeit gelesen, über das Bild von Friedrich dem Großen im Laufe der Geschichte, das hat unheimlich geschwankt. Außerdem eigne ich mich da sowieso nicht so gut: Ich war ja die meiste Zeit, in der Frau Merkel Kanzlerin war, in ihrer Regierung.

Steckbrief

Wolfgang Schäuble
wurde 1942 in Baden-Württemberg geboren. Der studierte Jurist gehört seit 50 Jahren als Abgeordneter zum Bundestag und ist damit der dienstälteste Bundestagsabgeordnete in der deutschen Geschichte.

Ministerämter
Schäuble diente bereits als Minister unter CDU-Kanzler Helmut Kohl in den Achtzigerjahren. Als westdeutscher Innenminister hat er den Vertrag für die deutsche Wiedervereinigung maßgeblich mitverhandelt. Unter Angela Merkel war Schäuble ebenfalls Innenminister (2005 bis 2009). In den Jahren der europäischen Finanzkrise wirkte er als Finanzminister (2009–2017).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.12.2022)

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