Gastkommentar

Das inszenierte „Schengenproblem“

Die Erweiterung des Schengenraums ist kein Kuhhandel. Das sollte auch die österreichische Regierung wissen.

Die Autorinnen:

Dr. Judith Kohlenberger (*1986) ist als Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der WU Wien tätig.

Dr. Daniela Pisoiu (*1981) ist Politikwissenschaftlerin am Österreichischen Institut für Internationale Politik.

Die Erweiterung des Schengenraums ist eine der Prioritäten der tschechischen Ratspräsidentschaft seit Juli 2022. Bereits im Mai forderte die Kommission den Rat auf, „Beschlüsse zur formellen Beteiligung Kroatiens sowie Rumäniens und Bulgariens zu fassen“. Keine Einwände seitens Österreichs zu dieser Zeit. Erst kurz vor der offiziellen Absegnung auf politischer Ebene kommunizierte man sein Veto, zunächst für alle, dann nur für Rumänien und Bulgarien. Dabei bestätigen wiederholte Berichte der Kommission, dass alle drei Länder die Voraussetzungen für den Beitritt erfüllen, wie auch Expertenmissionen vor Ort feststellten; die Stellungnahmen des Europäischen Parlaments waren ebenfalls positiv.

Dennoch meint Österreichs Bundeskanzler, eine „Ostbalkanroute“ erkennen und das Schengen-System für dysfunktional erklären zu können. Dabei erwähnt der letzte Frontex-Bericht diese gar nicht, sehr wohl aber, dass die Westbalkanroute nach wie vor die aktivste Migrationsroute in die EU sei. Unter den jetzt ankommenden Schutzsuchenden sind zahlreiche, die bereits Asyl in Griechenland erhalten haben und nun in Richtung nördliche EU aufbrechen. Dazu getrieben werden sie von griechischen Gesetzesänderungen, die Asylberechtigten sowohl Wohnraum als auch Lebensmittelversorgung streichen, was bei vielen zu existenzieller Not führt und im klaren Widerspruch zur EU-Aufnahmerichtlinie steht. Die EU aber nahm diese Grundrechtsverletzungen bisher still und sanktionslos hin, was sich nun durch irreguläre Weiterreisen rächt. Will man diese verhindern, wären nicht Rumänien und Bulgarien, sondern ein schon lang dem Schengenraum angehörendes Land, nämlich Griechenland, die richtige Adresse.

Aber auch Schutzsuchende, die sich seit Monaten in den Westbalkanländern unter bekanntlich schlechten Bedingungen aufhielten und aufgrund Covid-bedingter Reisebeschränkungen festsaßen, machen sich nun auf in Richtung Westen. Oft wird der Grenzübertritt mehrfach versucht, was zu einer hohen Zahl an Aufgriffen führt, weil nicht pro Person, sondern pro versuchtem Übertritt gezählt wird.

Kritik an Ungarn bleibt aus

Und dann wäre da noch die weiterhin visumsfreie Einreise, etwa für indische Staatsangehörige, nach Serbien. Dass diese den beachtlichen Umweg über Bulgarien machen, um in die EU zu gelangen, scheint doch eher fraglich. Für viele führt der Weg wohl von Serbien direkt nach Ungarn – und dort winkt man bekanntlich im großen Stil nach Österreich weiter. Anders als Bulgarien und Rumänien wurde Ungarn von der österreichischen Bundesregierung aber bis dato nicht öffentlich kritisiert, im Gegenteil.

Lieber inszeniert man die Flüchtlingsfrage als ein „Schengenproblem“, womit das europäische Gefüge nur noch weiter ausgehöhlt wird, indem sich wieder einmal zeigt, dass Evidenz und legitime Rechte angesichts temporärer innenpolitischer Interessen keinen Wert haben. Und dass Solidarität einseitig ist. Etwa, als Rumänien die Flüchtlingssituation an der ukrainischen Grenze mit knapp 2,8 Millionen Ankünften hervorragend meisterte; als man zu Beginn der Coronapandemie Sonderzüge mit dringend benötigten Pflegekräfte nach Österreich schickte; oder als sich Bulgarien und Rumänien für die Stärkung der Ostflanke gegen die russische Bedrohung einsetzten. Gelebt wird der europäische Gedanke aber nur dann, wenn man von allen Mitgliedern der Europäischen Union, auch von Österreich, Solidarität erwarten kann.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.12.2022)

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