Quergeschrieben

Mehr Respekt für Menschen mit Behinderung

Am Beispiel der „Dämonen“ am Wiener Burgtheater: Körperlich und geistig behinderte Menschen darf man offenbar bis zum Fremdschämen persiflieren.

Als kleines Mädchen saß ich einmal am Gartenzaun und spottete unserem geistig behinderten Nachbarbuben hinterher, bis mich mein Vater mit einer saftigen Ohrfeige und einer Strafpredigt über (mangelnden) Respekt vom Zaun fischte. Ist ja ein blöder Satz, dass man für eine Tetschn dankbar ist, aber in dem Fall dann doch. Unlängst bei den „Dämonen“ im Wiener Burgtheater geisterte diese Kindheitsepisode wieder durch meinen Kopf.

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Man weiß natürlich als politisch korrekter Mensch: Blackfacing ist pfui. Wer den Othello spielt, darf sein Gesicht keinesfalls mit Theaterschminke schwarz färbeln. Im allerschlimmsten Notfall lieber eine weiße Frau als Othello, auch wenn Shakespeares rassismuskritische Brisanz dann flöten geht. Genderfluide Rollen sollen, bitteschön, mit genderfluiden Darstellern besetzt werden, sonst hagelt es LGBTQI+-Proteste wie dereinst bei Scarlett Johansson, die letztlich doch nicht den Transmann Dante „Tex“ Gill verkörpern durfte. Wenn die Nichtjüdin Helen Mirren die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir spielt oder die israelische Schauspielerin Gal Gadot die ägyptische Pharaonin Kleopatra, fliegen ihnen Jewfacing- bzw. Whitewashing-Vorwürfe um die Ohren. So weit so woke. Was aber, wenn eine Schauspielerin eine körperlich und geistig gehandicapte Figur der Lächerlichkeit preisgibt und über die Bühne hoppelt und hüpft und hampelt und hinkt, sich spastisch windet und trutschkerlt bis zum Fremdschämen? Dann lacht das Publikum fröhlich in der sonst so gar nicht lustigen, vierstündigen „Dämonen“-Tragödie. Wobei die Beleseneren unter den Theaterbesuchern im Vorteil sind, sie kennen ihre bösen Geister und müssen in dem Bühnen-Stückwerk nicht verzweifelt nach Zusammenhängen suchen. Fjodor M. Dostojewski (1821–1881) wird sich etwas dabei gedacht haben, als er diesen hochkomplexen Stoff über Glaube, Liebe, Hoffnung, Betrug, Sozialismus, Terror, Nihilismus, Nationalismus, Revolution und Lebensüberdruss in einer sich auflösenden Welt in einen tausendseitigen Roman gegossen und nicht in ein vierstündiges Konversationsstück gequetscht hat.

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